TEXT. Unter weitgehender Abstraktion von den materiellen Aspekten der Aufzeichnungsbedingungen von T. in Druck, Handschrift o.ä. (Notation) bezeichnet der Begriff gewöhnlich einen sprachlichen oder musikalischen (im weiteren Sinne auch: rhetorischen, stilistischen, kompositorischen etc.) Struktur- und Sinnzusammenhang. Im editionswissenschaftlichen Kontext erstreckt sich der Begriff darüberhinaus auch auf die materiellen Eigenschaften der auf einem Trägermedium verzeichneten sprachlichen oder musikalischen Zeichen. Um diese beiden Bedeutungsebenen des T.begriffs auch terminologisch zu markieren, wurde die Unterscheidung zwischen material text und semiotic text vorgeschlagen (Shillingsburg 1997, 71). Unter Betonung sowohl der strukturellen Geschlossenheit des semiotic t. als auch der materiellen Vollständigkeit des material t. ergeben sich Abgrenzungsmöglichkeiten von strukturell vergleichsweise offenen und/oder materiell unvollständigen T.ausprägungen, wie sie z.B. im Falle von t.genetisch relevanten Vorstufen (Avant-Texte, Entwurf, Notiz) oder auch in gattungs- und stilbedingten T.formen (Fragment) bzw. im Falle von überlieferungsbedingten T.ausfällen (Fragment) gegeben sind. In deutlich erweiterter Bedeutung bezeichnet T. schließlich den semiotisch beschreibbaren Zusammenhang von kulturell, geschichtlich und sozial bestimmten Symbolisierungsleistungen, die auch nicht-sprachliche Aussagekomplexe (wie z.B. religiöse Rituale sowie allgemein soziale Verhaltens-, Handlungs- und Bewertungsmuster) umfassen können (kultureller Text).

Die materiellen Aspekte der sprachlichen oder musikalischen Zeichen eines T.s bilden den zentralen Gegenstand editionswissenschaftlicher Basisoperationen. So bietet die buchkundliche, kodikologische und paläographische Beschreibung und Analyse von T.zeugen eine wesentliche Grundlage für Datierung, Zuschreibung, Klassifikation und Bewertung des Überlieferungsmaterials, welche ihrerseits den wesentlichen Bezugspunkt der T.konstitution und -präsentation bilden. Auf dieser Ebene gerät der T. in seinem konkreten Objektstatus als Buch, Druck, Handschrift oder Codex in den Blick, die materiellen Eigenschaften des T.s haben hier wesentlichen indikatorischen Wert für die Rekonstruktion von Zeitpunkten, Zeitrelationen und Wortlaut der T.überlieferung oder der T.genese (Stemma). Im Zuge eines an den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts orientierten Objektivitätsanspruchs der Editorik wurde die Analyse der materiellen Eigenschaften der T.aufzeichnung insbesondere seit Karl Lachmann als Bezugspunkt der äußeren Kritik konsequent von der auf Werk-, Gattungs- oder Bedeutungsaspekte gerichteten inneren Kritik unterschieden und ihr methodisch vorgeordnet (Lachmannsche Methode). Auch im Rahmen der methodischen Programmatik der angelsächsischen New Bibliography und der Analytischen Druckforschung wurde die Analyse und Beschreibung der materiellen Eigenschaften der Überlieferungszeugen als objektive Grundlage der editorischen Vorgehensweise erkannt und von einer vorrangig auf den Sinngehalt des T.s gerichteten Untersuchungsperspektive methodisch deutlich geschieden: "What the bibliographer is concerned with is pieces of paper or parchment covered with certain written or printed signs. With these signs he is concerned merely as arbitrary marks; their meaning is no business of his" (Greg 1966, 247). Die methodisch motivierte Unterscheidung zwischen dem T. als "sinnlich faßbare[m] Teil" und als Bezugspunkt der editorischen T.konstitution einerseits, und dem "Werk als Totalität" andererseits findet sich auch in der neugermanistischen Editionswissenschaft: "Was über die konkrete Textkonzeption hinaus in den immateriellen Bereich der dichterischen Konzeption verweist, ist Sache der Textinterpretation, nicht der Textkonstitution." (Wollenberg 1971, 255) Unter Abstraktion von Sinngehalt und Werkcharakter des T.s bilden die materiellen Aspekte des T.s damit die weitestgehend objektivierbare Grundlage der t.kritischen Arbeit. Gleichwohl wurde die Frage, inwieweit das Postulat einer ausschließlichen Konzentration auf die materielle Ebene des T.s unabhängig von dessen Sinngehalt überhaupt möglich ist, unter universalhermeneutischer Perspektive v.a. bezüglich der irreduziblen Deutungsanteile bei der Erhebung materieller Befunde negativ beantwortet (Zeller 1971) (Befund und Deutung).

Editionspraktisch gesehen bildet die größtmögliche Annäherung an die materielle Dimension des T.s dessen Darstellung als Faksimile. Obwohl auch die Faksimile-Wiedergabe ähnlich wie andere Formen der T.-Transkription und T.-Präsentation immer eine mehr oder weniger starke Form der Reduktion materieller T.eigenschaften (z.B. hinsichtlich Farbe, Format, Beschreibmaterial, Anordnung etc.) impliziert (vgl. Urchueguía 2000), kann das Faksimile im Unterschied zu gängigen Transkriptions- und editorischen Darstellungsformen in weitaus größerem Maße medienspezifische, nicht-sprachliche und nicht-notationale (autograph-analoge) Elemente der musikalischen und sprachlichen Aufzeichnungspraxis bewahren, die bei der Übertragung in allograph-diskrete Aufzeichnungssysteme häufig verloren gehen (Notation). Ausgehend von der editorischen Minimalform der T.erfassung per Faksimile lassen sich verschiedene Theorie- und Anwendungskonzepte des editionswissenschaftlichen T.begriffs im Hinblick darauf unterscheiden, inwieweit sie den medienspezifischen, materiellen Aspekten des T.s Rechnung tragen.

Zur weitestgehenden Lösung von den materiellen Aspekten des T.s kommt es in der angelsächsische Methode des copy text editing. Ungeachtet der buchkundlichen Objektivierung der von ihr vorgenommenen T.klassifikation und -selektion zielt hier die T.konstitution selbst auf das ideale Konstrukt eines "single text which represents, as closely as available evidence will allow, what the author wished his text to be" (Tanselle 1975, 331). Basierend auf der methodischen Trennung zwischen T. und T.träger (document) bei der Textkonstitution, führt dies in editionspraktischer Hinsicht zur Kontamination eines die überlieferungsfrühesten Akzidenzien bewahrenden Copy-Texts mit einem T.träger, der als substanzielle Änderungen die author's final oder latest intention enthält. Der daraus entstehende ideal text repräsentiert nicht nur den vom Autor autorisierten materiellen T.zeugen im Sinne des neugermanistischen Autorisationsbegriffs, sondern erstreckt sich gleichermaßen auf die vom Autor intendierte T.- und Werkbedeutung, welche die historische und materielle Authentizität der T.zeugen per Definition übersteigt. Unter diesem Aspekt wurde auf die Nähe des T.begriffs der Copy-Text-Methode zu den theoretischen Prinzipien des literaturwissenschaftlichen New Criticism hingewiesen (Greetham 1999). Obwohl die Methode des New Criticism sich programmatisch gegen das interpretatorische Leitprinzip der Autorintention wendet, begreifen sowohl Copy-Text-Methode als auch New Criticism den T. als überkomplexen Zeichenzusammenhang, der auf die letztlich nie vollständig diskursivierbare und repräsentierbare Einheit einer ästhetischen Werkgestalt verweist. Während sich die Vertreter des New Criticism dieser Werkgestalt über die immanente Interpretationen einer als in sich geschlossen postulierten T.struktur anzunähern versuchen, zielen die Vertreter der Copy-Text-Methode auf die editorische Idealkonstitution eines kritisch-eklektischen T.s (Eklektizismus; Editionstypen), die von der historisch materiellen Authentizität der T.träger programmatisch abstrahiert. Vergleichbares gilt für die überkommene musikwissenschaftliche Editionspraxis der Interpretationsausgabe.

In deutlichem Unterschied hierzu basiert die wissenschaftliche Editorik insbesondere der Altgermanistik und Neugermanistik sowie der Musikwissenschaft seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert auf einer methodisch motivierten Identifikation von T. und T.träger, insofern sie das Ziel verfolgt, die der T.konstitution zugrunde gelegten Trägermedien in ihrer historischen und materiellen Authentizität weitestgehend zu bewahren und zugänglich zu machen. Nicht nur infolge des unverhältnismäßig großen technischen und finanziellen Mehraufwands, sondern auch aufgrund einer prinzipiellen Ausrichtung an der genetischen Form des Werktexts (im Unterschied zu den insbesondere in (Entwurfs)Handschriften dokumentierten T.-Entstehungs- und Schreibprozessen als Erkenntnisgegenstände sui generis) kam es hier selten zu einer konsequenten (unterstützenden) Wiedergabe der T.zeugen im Faksimile. Dies kann auch als Indiz für einen verhältnismäßig medienneutralen T.Begriff genommen werden, der den autographen Besonderheiten gerade handschriftlicher T.zeugen über ihren indikatorischen Wert für die T.genese hinausgehend - im Rahmen der eigenen Zielsetzung folgerichtig - wenig Aufmerksamkeit widmet (Schreiben, Medientheorie).

Insbesondere die wissenschaftliche Editorik im Bereich der Neugermanistik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt hierbei eine Begriffstradition fort, welche den T. als geordnete Menge von Elementen und höchste Sinneinheit von Sprache definiert. Eine solche Verwendung des T.begriffs, die man bei je unterschiedlicher Akzentuierung von der griechischen Antike (Platon, Crat. 424cff.; Aristoteles, Poet. 20, 1457a) bis zur modernen T.linguistik (Coseriu 1981, Stempel 1971) oder zu t.theoretischen Überlegungen des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus oder des New Criticism verfolgen kann, liegt auch hierfür einschlägigen editionswissenschaftlichen Begriffsbestimmungen zugrunde: "Der Ausdruck 'Text' wird [...] in folgender Bedeutung gebraucht: ein (aus Lexemen und Morphemen bestehender) Wortlaut, der satz- bzw. aussagedefinit ist. Das Kriterium ist hierbei nicht, daß eine abgrenzbare Wortfolge mindestens einen grammatisch vollständigen Satz darstellt, sondern die Möglichkeit, einen gegebenen Wortlaut in einen oder mehrere Aussagesätze umwandeln zu können." (Hurlebusch 1971, 121, Anm. 6; vgl. auch die Unterscheidung zwischen T. und (Entwurfs)Handschrift bei Reuß 1999, 14ff.). Ähnliches gilt prinzipiell auch für rezeptionsästhetische Ansätze, die annehmen, der T. werde allererst durch den Leseprozess gebildet, in dessen Verlauf der Rezipient über selektive und kombinatorische Konstitutionsakte bestimmte Appellstrukturen des T. realisiert und den T. dadurch als strukturell mehr oder weniger geschlossene Sinn- und Bewusstseinsgestalt konkretisiert. Unter diesem Aspekt erschließt sich etwa die rezeptionsgeschichtliche Editorik die geschichtliche "Faktizität der Texte" (Kraft 1973, Kraft 1982, 5) bzw. ihre "historisch-ästhetische[...] Authentizität" (Kraft 1990, 30). Als editorisch relevante Bezugsgrößen implizieren die Begriffe die Forderung, jene Fassung zu edieren, "die am Schnittpunkt von Produktion und Rezeption Werkcharakter begründet hat" (Kraft 1990, 29).

Avancierte Versuche einer editionswissenschaftlichen Bestimmung des Fehler- oder Fassungsbegriffs legen einen T.begriff zugrunde, der sich auf zeitgenössische t.theoretische Überlegungen aus dem Umfeld des literaturtheoretischen Strukturalismus berufen kann: "Eine Fassung wird also konstituiert durch mindestens eine Variante. Durch die Änderung auch nur eines Elements, das zu vielen andern in Beziehung tritt bzw. vom Leser zu ihnen in Beziehung gesetzt werden kann, ergeben sich neue Beziehungen, also ein neues System, eine neue Fassung." (Zeller 1975, 115) Auch diese Bestimmung rekurriert implizit auf eine Auffassung des T.s als geordnete Menge von Sprachelementen und kann sich dabei auf die strukturalistische Beschreibung des sprachlichen Zeichensystems berufen, derzufolge die Bedeutungsfunktion eines Zeichens "einzig und allein durch seine Beziehungen und Verschiedenheiten mit anderen Gliedern der Sprache gebildet wird", welche ein bestimmtes "Wort von allen anderen zu unterscheiden gestatten" (De Saussure 1916, 140; vgl. Gabler 1981). Im Hinblick auf die "diachrone Abfolge verschiedener synchroner Systeme, die zusammen die Werkgeschichte ausmachen" (Zeller 1975, 115) bietet der implizite T.begriff dieser Fassungsdefinition darüber hinaus Anschlussmöglichkeiten an zentrale Positionen der poststrukturalistischen T.theorie (Poststrukturalismus), welche ausgehend vom strukturalistischen Verständnis des T.s als Zeichensystem den T. als bedeutungsgenerativen Verweisungszusammenhang begreift, dessen Bedeutungspotential die aktuelle Bedeutung der einzelnen T.elemente immer schon übersteigt und verhindert "daß zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und auf sich selbst verwiese. Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, daß sich jedes 'Element' - Phonem oder Graphem - aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert. Diese Verkettung, dieses Gewebe ist der Text" (Derrida 1972, 66f.; vgl. écriture). Aufgegriffen wurden die Implikationen dieses T.begriffs von Vertretern der französischen Forschungsrichtung der critique génétique (Hay 1985, 150; vgl. Grésillon 1994, 148) sowie, im Rahmen einer weitreichenden methodischen Reflexion auf die Grundlagen und Möglichkeiten textgenetischer Interpretation, von Gunter Martens, der den "in den Korrekturen und Veränderungen der verschiedenen Textfassungen greifbare[n] Textbildungsprozeß" versteht "als Niederschlag einer in stetem Fluß befindlichen Textbedeutung" (Martens 1991). Der hieraus entwickelte dynamische Textbegriff ist insofern aus den materiellen Aspekten des T.s abgeleitet, als er sich ausdrücklich auf die Diachronie der Textgenese bezieht, die allererst in den verschiedenen Entstehungsdokumenten wahrnehmbar wird, die dem vollendeten T. vorausliegen. Allerdings ist festzuhalten, dass der dynamische T.begriff von anderen materiellen, nicht-sprachlichen, Ausprägungen der T.zeugen weitgehend abstrahiert bzw. diese vorrangig in ihrem Aussagewert hinsichtlich einer chronologischen Rekonstruktion der T.genese und der darin sich manifestierenden sprachlichen Varianz, nicht aber in ihrem medienspezifischen und materiellen Eigenwert, berücksichtigt. Wesentlich kennzeichnend für den dynamischen T.begriff ist dabei die Übertragung der materiellen Bedingungen der T.entstehung ("material text") auf die prinzipiell immaterielle Ebene der sprachlichen T.bedeutung ("semiotic text") (vgl. Shillingsburg 1997, 71). Die Legitimität dieser Übertragung wird dabei durch Modelle zur Beschreibung ästhetischer Sinnstiftung begründet, die dem Theoriekontext des französischen Poststrukturalismus entstammen (écriture). Demzufolge verwirklicht sich in der entstehungsgeschichtlich bedingten Varianz der T.fassungen und T.stufen das literaturtheoretische Postulat einer irreduziblen Vieldeutigkeit und Offenheit ästhetischer T.e: als "engendrement infini syntaxique et/ou sémantique [...] irréductible à la structure engendrée, productivité sans produit" (Kristeva 1972, 216; génotexte); vgl. Barthes 1994, 94).

In ähnlicher Weise, allerdings im Blick auf überlieferungsgeschichtlich bedingte Phänomene textueller Varianz, überträgt auch der Ansatz der mediävistischen Forschungsrichtung der New Philology (Altgermanistische Editionswissenschaft) zentrale t.theoretische Prinzipien poststrukturalistischer Provenienz, insbesondere des écriture-Begriffs, auf materielle Aspekte der Überlieferungsträger, um die semantische Dynamik varianter T.fassungen zu beschreiben. Aus der wesentlich durch das Wechselspiel von schriftlicher Fixierung und mündlicher Performanz geprägten Überlieferungssituation des Mittelalters (Vokalität) wird hierbei der Begriff eines konstitutiv 'unfesten T.s' abgeleitet, der durch permanente Bedeutungsverschiebung (mouvance) in der Abfolge der verschiedenen T.zeugen geprägt ist und die Anwendung neuzeitlicher Ordnungskategorien, insbesondere die des "Werks" und des "Autors", von vornherein untersagt (Cerquiglini 1989; Zumthor 1994). Vergleichbare Spannungsverhältnisse wie sie aus dem für das Mittelalter charakteristische Wechselspiel von schriftlicher Fixierung und mündlicher Performanz resultieren, stellen sich auch in der Musikwissenschaft hinsichtlich der klanglichen und schriftlichen Gegebenheit ihres Gegenstands. Im Blick auf eine editionspraktische Umsetzung der daraus ableitbaren T.gegebenheiten wurde sowohl im Bereich der Mittelalterphilologie und in den Neuphilologien als auch in der Musikwissenschaft auf die erweiterten Möglichkeiten von Hypertext-Darstellungen im Rahmen Elektronischer Editionen verwiesen (Cerquiglini 1989; Landow 1992; kritisch: Winko 1999).

Jüngere Studien im Bereich der Alt- und Neuphilologie (Hausmann 1999, Lüdeke 2002) versuchen dagegen auf der Grundlage eines rezeptionsästhetisch begründeten T.begriffs das auf überlieferungsgeschichtlich und entstehungsgeschichtlich bedingte T.prozesse angewendete Postulat einer auf Dauer gestellten Bedeutungstransformation durch den Hinweis darauf zu modifizieren, dass es sich bei der zugrunde liegenden T.-Varianz weniger um die Manifestation einer prinzipiellen Unbestimmtheit ästhetischer (oder allgemein sprachlicher) Bedeutungskonstitution handelt, als vielmehr um die kulturell und historisch je bestimmte Konkretisation von im Bezugst. der Varianz angelegten Sinnpotenzialen, die auf je spezifische Strukturprobleme der T.umwelt reagiert (vgl. Baisch, Lüdeke 2000, 246f.).

Weitere Anreize zu einer solchen pragmatischen Verortung des T.s finden sich in theoretischen Ansätzen, welche 'Text als Handlung' (Stierle 1996) begreifen. T. wird hierbei als eine "sprachlich verfaßte kommunikative Handlung" aufgefasst (Strohschneider 1999, 20) und mit Bezug auf t.linguistische, kommunikations- und medientheoretische Überlegungen näherhin als 'wiederaufgenommene Mitteilung' verstanden (Ehlich 1983). Damit ist der T.begriff von seiner medienspezifischen Bindung an die Kategorie der Schriftlichkeit gelöst, T. ist in diesem Begriffszusammenhang vielmehr ein transmediales Phänomen (Medium), das sich sowohl schriftlich als auch mündlich realisieren kann (Strohschneider 1999, 21f.). Dagegen wird die Differenz zwischen diesem T.begriff und anderen Formen sprachlicher Handlungen aufrechterhalten: "Von jederart sprachlich verfaßter und stets situationaler kommunikativer Handlung unterscheidet sich der Text dadurch, daß er eine relativ situationsabstrakte, freilich stets allein wieder situational aktualisierbare Form der Rede ist." (Strohschneider 1999, 22) T. entsteht demzufolge in dem Moment, in dem er von einer unmittelbaren Sprechsituation abgelöst wird und sich in zwei bis virtuell unendlich vielen einzelnen Situationen entfalten kann. "Texte sind demnach durch ihre 'sprechsituationsüberdauernde Stabilität gekennzeichnet', 'die Überlieferungsqualität einer sprachlichen Handlung' ist das Kriterium für die Kategorie 'Text'." (Strohschneider 1999, 21). In Erweiterung von poststrukturalistischen Ansätzen, welche den T. als prinzipiell inter- oder intratextuelles Gewebe heterogener Bedeutungsspuren (Intertextualität) begreifen, lassen sich auf dieser kommunikationspragmatischen Basis Fragen nach der Genese, dem Status und der Funktion von Phänomenen t.ueller Varianz in einem stärker kulturhistorisch und funktionsgeschichtlich ausgerichteten Bezugsrahmen formulieren: Wenn T. 'Wiedergebrauchsrede' ist, gerät auch die historisch je spezifische Situation, in welcher der T. eine Form der Realisierung findet, in den Blick (vgl. Baisch 2000). Mit einer Auffassung von T. als wiederaufgenommene, kommunikative Handlung wird die Überlieferung etwa mittelalterlicher T.e nicht mehr als "etwas Nachträgliches, Sekundäres oder Akzidentielles" (Strohschneider 1999, 25) verstanden, vielmehr wird mit dieser Auffassung das Moment der Aktualisierung des Werkes, der Adaptation an einen gewandelten Sinnhorizont, als das entscheidende Charakteristikum von Überlieferung grundsätzlich betont. Neben kontingenten Sinnverschiebungen und Sinnverlusten im T., die aus unterschiedlichen Modalitäten des pragmatischen Gebrauchs resultieren, können dem T. dabei auch spezifische Sinnbildungen eingeschrieben werden, die auf die "Situativität auch des tendenziell situationsabstrakten Schrifttextes" (Strohschneider 1997, 71) verweisen. Die systematische Umsetzung dieser Untersuchungsperspektive im Bereich der verstärkt durch entstehungsgeschichtliche Varianz geprägten T.zeugen der Neueren Philologien steht im wesentlichen noch aus.

Festzuhalten ist, dass sowohl der kritisch-eklektische T.begriff der angelsächsischen Copy-Text-Methode als auch der struktural-differentielle T.begriff der neugermanistischen Edtionswissenschaft wie auch die kommunikationspragmatische Definition des T.s als 'Wiedergebrauchsrede' von den medienspezifischen Materialitätseigenschaften des T.s weitgehend abstrahieren. Editionsgeschichtlich und kulturwissenschaftlich geprägte Forschungsansätze, die sich verstärkt diesem Aspekt widmen, sind z.B. die angelsächsische social theory of editing, die französische histoire du livre bzw. die angelsächsische history of the book, welche die materiellen, auch nicht-sprachlichen, Eigenschaften von Druckzeugnissen ("in the case of scripted texts, the physical form of books and manuscripts (paper, ink, typefaces, layouts) or their prices, advertising mechanisms, and distribution venues" (McGann 1991, 12)) einerseits als Indizien für kulturhistorisch bestimmte Entstehungs-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen von T.en verstehen, andererseits aus diesem Verständnis von T.bedeutung "at the most material (and apparently least 'signifying' or significant) levels" (McGann 1991, 12) wesentliche neue Kontextualisierungsmöglichkeiten ableiten, die dann auch in die Interpretation der im engeren Sinne sprachlichen Ebene des T.s Eingang finden kann. Ähnliches gilt für das mediävistische Methodenparadigma der Material Philology, welche die Semantik des handschriftlichen T.s als komplexen Effekt einer aus der Arbeitsteilung von Autor, Schreiber, Redaktor, Illuminator, Rubrikator und Kommentator resultierenden Vielfalt materieller T.Eigenschaften und deren je spezifischen Sinnpotenzials begreift und sich dabei programmatisch gegen eine wortfixierte Philologie wendet (Nichols 1997, 11). Kennzeichnend für den T.begriff der genannten Ansätze ist die Auffassung, dass die materiellen Aspekte der Aufzeichnungsbedingungen von T.en nicht einen "'sinnneutralen Träger, als materialitätsbestimmtes, aber sinnunabhängiges Speichermedium" bilden, als vielmehr einen "'Faktor der Sinnkonstitution'" selbst. darstellen (Hassauer 1992, 51, vgl. Gumbrecht 1988, 16). Auf dieser Basis ergeben sich wechselseitige, von den Mittelalterphilologien durchaus, von den Neuphilologien und der Musikwissenschaft dagegen kaum realisierte Anschlussmöglichkeiten an jüngere medienhistorische und kultursemiotische (Kultursemiotik) Forschungsansätze der allgemeinen Kulturwissenschaft. Die Tatsache, dass sich einer der wesentlichen Gründungst.e der kultursemiotischen Forschungsperspektive programmatisch auf die t.kritische Grundoperation der Handschriftenentzifferung (Geertz 1973, 10) bezieht, kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass sich das differenzierte, häufig semiologisch fundierte, Spurenraster des t.kritischen Beschreibungsinstrumentariums eingliedern lässt in eine funktionsgeschichtliche Untersuchungsperspektive, die sich die Analyse komplexer gesellschaftlicher Symbolisierungsleistungen des kulturellen Texts zum Ziel setzt. Im Verbund mit einer mediengeschichtlichen Untersuchungsrichtung stellt sich auf dieser Grundlage die Frage insbesondere nach Wechselwirkungen zwischen der semiotischen Selbstkonstitution von kulturellen Ordnungssystemen einerseits und den mit ihnen einhergehenden Organisations- und Realisationsformen ihrer Übertragungs-, Vervielfältigungs- und Speichertechniken andererseits. Ein solches Verständnis von T. in seiner Doppeltheit als kultur- und mediengeschichtlich bestimmtes Objekt sowie als (häufig, aber nicht ausschließlich sprachlich realisierter) Symbolordnung andererseits kann auch wesentliche Neuanreize für die (literarische) Schreibprozessforschung bieten (critique génétique). Diese kann neben social theory of editing, histoire du livre und history of the book als weitere Forschungsrichtung gelten, welche sich - insbesondere im Blick auf die in Handschriften dokumentierten T.-Entstehungs- und Schreibprozesse - dezidiert der Materialität der T.- und Schriftträger widmet, dabei bislang aber vorrangig gegenstandsimmanent operierte. Die typologische Untersuchung von individuellen Aufzeichnungstechniken und Arbeitsweisen, die semiotisch fundierte Beschreibung der komplexen intermedialen Wechselverhältnisse zwischen T.- und Bildelementen (Intermedialität) oder der Heterogenität koexistierender Notationsformen sowie schließlich das Interesse am Schreiben als Praxis im Schnittpunkt von Gestik, Technik und Sprache lässt sich auf dem Hintergrund der skizzierten mediengeschichtlichen und kultursemiotischen Fundierung und Erweiterung des T.begriffs in funktionsgeschichtliche Frageperspektiven überführen, welche t.kritische und kulturwissenschaftliche Untersuchungsinteressen miteinander teilen.

[RL]

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[Zeller 1975] Zeller, Hans. 1975. Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: LiLi 5, Heft 19/20, 105-126.arrow back
[Zumthor 1994] Zumthor, Paul. 1994. Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994.arrow back

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