SCHREIBEN. Der Begriff bezeichnet eine von Textproduktion (Textgenese) zu differenzierende Beschreibungsebene des Schreibprozesses. Der Schreibprozess wird dabei nicht als Herstellung von Texten und/oder als Realisation und Repräsentation vorgefasster Ideen verstanden, sondern in seiner materiellen Ausprägung als Vorgang verstanden, bei dem mit einem Schreibgerät (z.B. Feder, Schreibmaschine etc.). auf einer Unterlage (Papier, Pergament u.a.) eine Folge von Zeichen (Buchstaben, Noten, Ziffern u.a.) festgehalten wird (Notation). Die Untersuchungsperspektive der traditionellen Editionswissenschaft begreift die Tätigkeit des S.s vorrangig auf der Beschreibungsebene der Textproduktion und lässt das S. in seiner materiellen Ausprägung als weitgehend akzidentelle Äußerlichkeit in der Regel unberücksichtigt. Parallel zu mediengeschichtlichen Untersuchungsinteressen der allgemeinen Kulturwissenschaft erfährt das S. in der jüngeren Editorik dagegen eine erhöhte Berücksichtigung in Theorie und Praxis.

Editionshistorisch betrachtet ist die Untersuchung der textproduktiven Ebene des Schreibprozesses eng mit bestimmten hermeneutisch orientierten Herangehensweisen der Editionsphilologie verbunden, die weit ins 19. Jahrhundert reichen (vgl. Hurlebusch 1998, 14f.). Insbesondere die in der Tradition der klassischen Philologie stehende und an der Ästhetik des vollendeten Kunstwerks orientierte neugermanistische Editorik entwickelte dabei eine Textgenetik, die - in Anlehnung an Goethes Äußerung im Brief an Zelter vom 4. August 1803: "Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn sie fertig sind; man muss sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen" - den Prozess der Textproduktion mit der organizistischen Metapher des Wachstums zu beschreiben versuchte (vgl. Mahrholz 1922, 60). So hält Friedrich Beißner für die Stuttgarter Ausgabe der Werke Friedrich Hölderlins (1943-1985) fest: "Wie oft hilft ihm [dem Editor] in solcher Lage [der Zweideutigkeit] die Lesart eines Entwurfs! Wie oft beglückt es ihn, wenn er den ganzen Stufenweg vom ersten Keim über alle noch zögernd prüfenden Wandlungen bis zur gelungenen Gestalt hin überblickt, so das Kunstwerk im Entstehen aufzuhaschen und so dessen tiefsten Sinn erst wahrhaft zu begreifen!" (Beißner 1961, 212) Der Darstellung der textgenetischen Dokumente und der linearen Chronologie des Schreibprozesses in 'Stufen' und 'Fassungen' haftete eine Sekundarität an, die im Dienste der idealen Endgestalt des Werkes stand und die einer der Materialität enthobenen Auffassung des S.s als zielgerichtetem Produktionsprozess Vorschub leistete.

Die Akzentuierung des S.s als einer Tätigkeit, deren Sinn nicht auf die Idealität eines Textes reduzibel ist, fand in der Editionsphilologie in Reinhold Backmann (Backmann 1924), Mitherausgeber der Grillparzer-Ausgabe, ihren theoretischen Wegbereiter und mit Hans Zeller, Herausgeber der Conrad Ferdinand Meyer-Ausgabe, einen Verfechter ihrer editionspraktischen Konsequenzen. Die genaue Beschreibung der Handschriften und ihre Transkription, welche die Chronologie und Topographie des Geschriebenen weitestgehend bewahren, dienen hier nicht mehr vorrangig der Konstitution eines "besten Textes", sondern rechtfertigten sich aus den Schreibgewohnheiten (Arbeitsweise) des Autors (vgl. Zeller 1964, 107): "Eine Dichter-Handschrift ist etwas Lebendiges; davon soll die Textübertragung möglichst viel bewahren." (Zeller 1958, 362) Dieses produktionsästhetische Interesse formuliert für die Editionsphilologie die Aufgabe, Schreibprozesse für den Benutzer einer Edition nachvollziehbar zu rekonstruieren. Eine konsequente Umsetzung dieses Anliegens vollzog die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, die seit 1975 unter der Leitung Dietrich E. Sattlers erscheint und die der Schreibtätigkeit in ihrer Materialität gerecht zu werden versucht, indem keine Drucktexte, sondern faksimilierte Manuskripte (mit diplomatischer Transkription) als Spuren einer individuellen S.praxis ediert werden. Das S. erweist sich hier gleichsam als Störfaktor der Textproduktion. Während Beißner geschlossene Texte als etwas Geschriebenes zu verstehen versuchte, stellt Sattler das S. als einen offenen Prozess dar. Die seitdem intensivierte Bemühung der Editionspraxis um die Erschließung von Schreibprozessen (vgl. z.B. die in dieser Hinsicht paradigmatischen Editionen zu Georg Trakl, Paul Celan, Georg Heym, Franz Kafka, Gottfried Keller, Heinrich von Kleist, Friedrich Nietzsche) bezeugt nicht nur das Interesse für die Positivität des textgenetischen Materials, sondern eine tiefgreifende, über die Editionsphilologie hinausreichende Kritik an der auf Texte bezogenen Hermeneutik in den Geisteswissenschaften.

Im wörtlichen Sinne als 'Text-Kritik' agiert die Frankfurter Kafka-Ausgabe von Roland Reuß und Peter Staengle (seit 1995): Die Dokumentation von Kafkas S. (nicht: von Kafkas Schriften) in Form von Faksimiles und der Verzicht auf die Herstellung eines idealen Textes aus den vorhandenen Entwurfshandschriften steht im Zeichen einer Problematisierung der Textgenese im Allgemeinen und textgenetischer Editionen im Besonderen: "Beschreiben, was je und je den Akten des Schreibens entspringt, ist darum den überlieferten Handschriften angemessener als zu erklären (versuchen), wie aus ihnen resultierende Texte entstehen (könnten). Das Problem bei der Vorstellung, daß Texte sich in ihrer 'Genese' entwickeln, liegt in dem Reflexivpronomen. Er setzt eine Identität voraus, die alles andere als fraglos ist." (Reuß 1999, 11) Die Einsicht, dass das S. eine singuläre Tätigkeit darstellt, die nicht von der Materialität einer Handschrift ablösbar ist, und dass die Transposition ins Druckbild einer editorischen Darstellung nicht ohne Informationsverlust stattfinden kann (Notation), erhellt die Möglichkeiten und Grenzen der Editionswissenschaft in ihrem Umgang gerade auch mit solchen Formen des S.s, die in ihrer Eigendynamik selbst eine Kritik am Text realisieren (vgl. Giuriato 2002).

Die in Frankreich entstandene Forschungsrichtung der critique génétique stellt eine Disziplin der literarischen Handschriftenforschung dar, die trotz methodischer Affinitäten weniger aus den Vorgaben der traditionellen Editionsphilologie, als aus wesentlichen Anleihen beim Methodenparadigma des französischen Strukturalismus entwickelt wurde (vgl. Grésillon 1994). Nicht mehr der "texte" (Text) als lineare Sinneinheit, sondern der sogenannte "avant-texte" (vgl. Bellemin-Noel 1972) als Spur einer körperlichen Bewegung in Raum und Zeit wird hier zum Gegenstand einer häufig semiologisch fundierten Handschriftenlektüre. Auch die Untersuchung des "avant-texte" findet im Sinne einer Kritik an der Autorität des Textes statt, die sich auf die prozessualen Eigenschaften des Schreibaktes bezieht und sich editionspraktisch in der dokumentarischen Bemühung in Form von sog. 'dossiers génétiques' manifestiert. Ungeachtet der Nähe zu Angeboten aus dem zeitgenössischen französischen Theoriekontext übersteigt der Begriff des S.s, wie ihn die critique génétique formuliert, jedoch die häufig metaphorische Verwendung des écriture-Begriffs im Sinne einer intransitiven, selbstreflexiven Geste der Textproduktion. Dagegen enthält der Begriff im textkritischen Bezugsrahmen und aufgrund der damit einhergehenden Prävalenz der materiellen Aspekte des S.s jedoch Anschlussmöglichkeiten an die Gestik der 'Schreibweise' wie sie insbesondere von Roland Barthes formuliert wurde (vgl. Barthes 1970). Dass die Rede von der 'écriture' im literaturtheoretischen Diskussionsrahmen zunehmend in ihrer wörtlichen Valenz wahrgenommen und problematisiert wird und sich das Augenmerk verstärkt auf punktuelle Schreibsituationen richtet (vgl. Barthes 1994), zeugt auch von einer Historisierung (und der damit einhergehenden Notwendigkeit empirisch genauer Beschreibungsformen) der 'écriture'. Dies legt die Annahme einer irreduziblen Spannung zwischen Schrift (im Sinne eines systematischen Begriffes) und S. (als historischem Begriff) nahe, der sich die zukünftige Schreibprozessforschung widmen könnte.

Insofern das S. eine in sich heterogene Vielzahl von Faktoren umfasst, die vom Schriftsystem, der Semantik, Orthographie, Grammatik über Schreibmaterial, Schreibinstrument bis hin zur gedachten Botschaft und der körperlichen Gestik reicht (vgl. Flusser 1991, 33), erklärt sich das breite Interesse, das ihm verschiedenste Forschungsrichtungen entgegenbringen: so z.B. die kognitionspsychologisch ausgerichtete Linguistik und die Aufsatzforschung (vgl. Antos 1989; Krings 1992; Beetz, Antos 1984), eine textkritisch basierte Literaturwissenschaft mit ihren ästhetisch-poetologischen oder semiotisch-klassifizierenden Frageansätzen (z.B. Hay 1989, Gellhaus 1994, Martens 1991) sowie schließlich die diskursanalytisch ausgerichtete Medientheorie und ihr Interesse für die historischen Bedingungen des S.s als Technik (vgl. Kittler 1985). Insbesondere der von Rüdiger Campe (Campe 1991) geprägte Begriff der 'Schreibszene' - als Rahmung poet(olog)ischer Selbstthematisierungen des S.s im historisch je neu zu beschreibenden Ensemble von Gestik, Technik und Sprache - hat die jüngste literaturhistorische Forschung dahingehend inspiriert, Rhetorik und Poetologie, Medientheorie und Mediengeschichte, Textkritik und Editionsphilologie als Ausgangspunkt eines Forschungsprojekts zu definieren, welche sich über eine Geschichte des Schreibens (vgl. Grésillon 1994) hinausgehend, eine "Genealogie des Schreibens" zum Erkenntnisziel setzt (vgl. Stingelin 1999, 83).

[DG]

Literatur:

[Antos 1989] Antos, Gerd. 1989. Textproduktion: Ein einführender Überblick. In: Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. Hrsg. von Gerd Antos. Tübingen, 5-57.arrow back
[Backmann 1924] Backmann, Reinhold. 1924. Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. In: Euphorion 25, 629-662.arrow back
[Barthes 1970] Barthes, Roland. 1970. To write: An intransitive verb? In: The structuralist controversy. Hrsg. von Richard Macksey und Eugenio Donato. Baltimore, 134-156.arrow back
[Barthes 1994] Barthes, Roland. 1994. Variations sur l'écriture (1973, texte non publié) . In: Ders.: Oeuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Paris, 1535-1574.arrow back
[Beetz, Antos 1984] Beetz, Manfred / Antos, Gerd. 1984. Die nachgespielte Partie. Vorschläge zu einer Theorie der literarischen Produktion. In: Analytische Literaturwissenschaft. Hrsg. von Peter Finke und Siegfried J. Schmidt. Braunschweig/Wiesbaden, 90-141.arrow back
[Beißner 1961] Beißner, Friedrich. 1961. Aus der Werkstatt der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. In: ders., Hölderlin. Reden und Aufsätze. Weimar, 251-265.arrow back
Bellemin-Noel 1972arrow back
[Campe 1991] Campe, Rüdiger. 1991. Die Schreibszene. Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M., 759-772.arrow back
[Flusser 1991] Flusser, Vilém. 1991. Die Geste des Schreibens. In: V.F..: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf, 39-49.arrow back
[Gellhaus 1994] Gellhaus, Axel, Hg. 1994. Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg.arrow back
[Giuriato 2002] Giuriato, Davide. 2002. Löschblatt. Vom Umgang mit Walter Benjamins Handschriften. In: Modern Language Notes (im Druck).arrow back
[Grésillon 1994] Grésillon, Almuth. 1994. Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris.arrow back
[Hay 1989] Hay, Louis, Hg. 1989. De la lettre au livre. Sémiotique des manuscrits littéraires (Collection textes et manuscrits). Paris.arrow back
[Hurlebusch 1998] Hurlebusch, Klaus. 1998. Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. In: Textgenetische Edition. Tübingen (=Beihefte zu editio 10), 7-51.arrow back
[Kittler 1985] Kittler, Friedrich A. 1985. Aufschreibesysteme 1800/1900. München.arrow back
[Krings 1992] Krings, Hans P. 1992. Schwarze Spuren auf weißem Grund - Fragen, Methoden und Ergebnisse der empirischen Schreibprozeßforschung im Überblick. In: Textproduktion. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von Gerd Antos / Hans P. Krings. Trier, 45-110.arrow back
[Mahrholz 1922] Mahrholz, Werner. 1922. Die Wesenszüge des schriftstellerischen Schaffensprozesses. In: Die geistigen Arbeiter. Hrsg. von Ludwig Sinzheimer. München und Leipzig, 59-73.arrow back
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[Stingelin 1999] Stingelin, Martin. 1999. "Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken". Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Lichtenberg-Jahrbuch, 81-98.arrow back
[Zeller 1958] Zeller, Hans. 1958. Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion 52, 356-377.arrow back
[Zeller 1964] Zeller, Hans. 1964. Bericht des Herausgebers. In: Conrad Ferdinand Meyer. Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Zweiter Band. Bern, 7-113.arrow back

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