AUTORISATION. Im editionswissenschaftlichen Kontext Kriterium zur Klassifikation und Selektion von Textzeugen.

Die theoretische Begründung der A. erfolgte vor allem mit der Hinwendung zu historischen Editionsverfahren in der neueren Germanistik und der damit verbunden Zurückweisung der Intention als Leitprinzip für die Textkonstitution. Im Gegensatz zur Autorintention stützt sich die A. auf die dokumentarische Überlieferung. Voraussetzung für die Anwendung des Kriteriums sind nachweisbare Spuren des Autors in den bezeugten Texten und deren Umfeld. Die A. gilt in jüngeren Ansätzen der neueren Germanistik als absolutes Kriterium. Danach sind nicht nur persönlich autorisierte, sondern auch vom Autor pauschal ohne Überprüfung autorisierte Zeugen editorisch relevant (Zeller 1971; Scheibe 1971, Scheibe 1982; Scheibe 1990). Aufgrund der im Rahmen des absoluten A.begriffs angesetzten Einheit von Text und Dokument bezieht sich die A. sowohl auf den materialen Textträger als auch auf die in ihm enthaltene Sprachstruktur (Text). Definitorisch lässt sich eine autorzentrierte und eine rezeptionsbezogene Perspektivierung des A.begriffs differenzieren. Einem autorzentrierten Ansatz ist die juristisch orientierte Fassung von A. zuzuordnen als "'Ermächtigung', [...] die der Autor einem Text gibt, der von ihm verfaßte und damit der von ihm gewollte Text zu sein" (Scheibe 1990, 58). Die A. fungiert zur Bestimmung jener substantiellen "Teilmenge" aus der Überlieferung, "die vom Autor verfaßt, gewollt und veranlaßt ist" (Scheibe 1990, 69). Den Produktionsbedingungen entsprechend wird zwischen persönlicher und gesellschaftlicher (kollektiver) A. unterschieden (Scheibe 1990, 67). Während die persönliche A. nur die Texte betrifft, die vom Autor eigenhändig verfasst und niedergeschrieben wurden, umfasst die kollektive oder gesellschaftliche A. auch Texte, die auf Veranlassung des Autors von fremden Personen bearbeitet wurden. Dazu sind die zu Lebzeiten des Autors entstandenen Drucke zu zählen, für die der Autor die Druckvorlage bestimmt oder geliefert hat, sowie in seinem Auftrag von Freunden und Beratern durchgeführte Korrekturen (Scheibe 1990, 62ff; Zeller 1971, 57f.). Eine zeitliche Determinierung von Autorisationsstufen ergibt sich nur für den Autor, nicht aber für den Editor (Scheibe 1990, 59). Für den Autor verliert eine Fassung ihre A. sobald sie durch eine neue Korrekturstufe ersetzt wird. Da dieser Akt der "Autor-Autorisation" an eine Willensentscheidung gebunden ist, endet die A. der zuletzt verfassten Textstufe mit dem Tod des Verfassers (Scheibe 1982, 19). Im Gegensatz zur subjektiven, ahistorischen Perspektive des Autors kommt dem Editor die Aufgabe zu, die autorisierten Texte zu dokumentieren (Zeller 1971, 56). Dem Editor als Historiker sind autorisierte Fassungen prinzipiell gleichwertig (Scheibe 1990, 61).

Im Gegensatz zum juristischen Verständnis von A. distanziert wird der analytische A.begriff durch die Sprachstruktur von Text definiert als eine "Handlung des Editors [...], durch die überlieferte Texte bestimmten Sprachbenutzern zugeschrieben" oder als "Methode, mit der die sprachlichen Anteile von Sprachbenutzern an der Text-Überlieferung festgestellt bzw. unterschieden werden können" (Hurlebusch 1971, 136f.). Während der authentische Text (Authentizität) ausschließlich auf den Autor als alleinigen Sprachbenutzer zurückgeht, enthält der autorisierte Text auch Sprachanteile fremder Sprachbenutzer (Hurlebusch 1971, 135).

Ein weiterer Ansatz zur Differenzierung des A.begriffs fordert, die authentischen Texte in den "Mittelpunkt der editorischen Bemühungen" zu stellen (Oellers 1998, 45). Auch diese an der Textgenese orientierte Position betrachtet einzig die "'eigentlichen', die 'wahren' Ursprungs-Texte, die allein vom Autor kommen" als authentisch. Autorisierte Texte hingegen sind "die vom Autor gebilligten Texte, ausdrücklich gebilligt oder stillschweigend" (Oellers 1998, 44). Wie auch der juristisch ausgerichtete A.begriff sind die auf sprachliche und textgenetische Merkmale von Überlieferung gestützten Differenzierungen einem produktionsbezogenen Autorbild verpflichtet.

Gegen die Autorfokussierung bei der Klassifikation von Überlieferungsmaterial wendet sich der rezeptionsorientierte Ansatz der geschichtlichen Autorisation, dessen Definition sich auf die historische Wirkung überlieferter Texte stützt (Kraft 1973) (Rezeption). Da Fassungen als Repräsentanten einer bestimmten historischen Situation zwar gleichwertig sind, sich jedoch in Bezug auf ihre literarische Wirkung unterscheiden, gilt nur die "authentische (literar-)historisch-relevante Fassung" als autorisiert (Kraft 1973, 41). Der Begriff authentisch bezeichnet in diesem Zusammenhang die "Zugehörigkeit des Ganzen (zu einem bestimmten Autor), die, indem sie auf das Ganze bezogen ist, durch Einzelheiten nicht aufgehoben wird" (Kraft 1973, 41f.). Gemäß dem geschichtlichem A.begriff, der durch den Begriff Faktizität der Texte ersetzt wurde (Kraft 1982, 5), ist die Fassung zu edieren, "die am Schnittpunkt von Produktion und Rezeption Werkcharakter begründet hat" (Kraft 1990, 29).

Während die A. in der neueren Germanistik das Konzept der Autorintention bei der Klassifikation und Selektion von Überlieferung nahezu vollständig ablöste, kommt dem Kriterium in der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft eine untergeordnete Rolle zu. Funktional entspricht der A. in der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft das Kriterium der Autorität (Authority). Der Begriff der Autorität stützt sich auf einen produktionsbezogenen Autorbegriff und bestimmt die Zeugen, die dem Autororiginal am nächsten stehen. Im Vergleich zur absoluten Definition der A. in der neueren Germanistik wird die Autorität als relativer Begriff verstanden: "Authority divides itself between the words as meaningful units (i.e., the substantives) and the accidentals" (Bowers 1964, 223f.). Das Kriterium der Autorität dient nicht nur zur Klassifikation von Überlieferung, sondern zugleich auch als Selektionsmerkmal für die Wahl der Textgrundlage. Als Basistext für die Edition ist der Textzeuge zu wählen, der dem Autororiginal am nächsten steht. Bei der Textkonstitution führt die Relativität des Autoritätsbegriffs zu einem eklektischen Verfahren, bei dem die gewählte Textgrundlage nach kritischer Evaluation der substanziellen Textbestandteile durch revidierte Lesungen späterer Zeugen emendiert werden darf. Wenngleich die Differenzierung von substantiellen und akzidentellen Textbestandteilen und die darin angelegte eklektische Textkonstitution vor allem im Rahmen der Copy-Text-Edition Anwendung findet, erfolgt in der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft bei neuzeitlicher Überlieferung auch fassungsbezogenes kritisches Edieren vielfach auf Grundlage eines relativen Autoritätsbegriffs.

[ABR]

Literatur:

[Bowers 1964] Bowers, Fredson. 1964. Some Principles for Scholarly Editions of Nineteenth-Century American Authors. In: Studies in Bibliography 17, 223-224.arrow back
[Hurlebusch 1971] Hurlebusch, Klaus. 1971. Zur Aufgabe und Methode philologischer Forschung, verdeutlicht am Beispiel der historisch-kritischen Edition. Eine Auseinandersetzung mit Hermeneutik und Historizismus. In: Texte und Varianten. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. München, 117-142.arrow back
[Kraft 1973] Kraft, Herbert. 1973. Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition, Tübingenarrow back
[Kraft 1982] Kraft, Herbert. 1982. Die Aufgaben der Editionsphilologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition, 4-12.arrow back
[Kraft 1990] Kraft, Herbert. 1990. Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billmann. Darmstadt.arrow back
[Scheibe 1971] Scheibe, Siegfried. 1971. Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München, 1-44.arrow back
[Scheibe 1982] Scheibe, Siegfried. 1982. Zum editorischen Problem des Textes. In: Probleme neugermanistischer Edition. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke (=Zeitschrift für deutsche Philologie 101, Sonderheft Probleme neugermanistischer Edition), 12-29.arrow back
[Scheibe 1990] Scheibe, Siegfried. 1990. Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio 4, 57-72.arrow back
[Zeller 1971] Zeller, Hans. 1971. Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München, 45-90.arrow back

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