ANGLOAMERIKANISCHE EDITIONSWISSENSCHAFT. Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bildete sich eine anglistische Literaturwissenschaft als eigene Disziplin heraus. Eine fachspezifische Textkritik und Editorik trat bald hinzu. Frühe Orientierung erhielt sie durch R.B. McKerrows Ausgabe The Works of Thomas Nashe. Sie erschien 1904-1910 in der Reihe der Oxford English Authors bei der Clarendon Press (Oxford University Press). Diese Studienausgaben-Reihe hat noch bis nahe zum Ende des 20. Jahrhunderts hin im anglo-amerikanischen Kulturraum die wissenschaftliche Editorik und die Rezeptionserwartung an verbürgte Ausgaben für den gebildeten Allgemeinleser wie den Fachmann geprägt. Zu ihren zentralen Normelementen gehören einleitende Würdigung und Wertung von Autor und dargebotenem Text; Abriss von Überlieferungssituation, Text- und Textkonstitutionsproblematik; kritisch durchgesehener bis konstituierter Text; und lemmatisierter Lesartenapparat und Stellenkommentierung am Fuß der Seite. Konzeption und Anordnung sind, modifiziert, aus der altphilologischen Editorik hergeleitet. Die altphilologische Textkritik in England war im 18. Jahrhundert richtungsweisend begründet worden (Bentley) und behauptete sich im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss deutscher Textkritik (Lachmannsche Methode). Herausgeber englischer literarischer Texte, universitär an den lateinischen und griechischen Klassikern textkritisch geschult, waren als Herausgeber volkssprachlicher Literatur seit dem 18. Jahrhundert autodidaktische gentlemen editors. Erst das 19. Jahrhundert sah allmählich Editoren als Berufsgelehrte. Auch die Übergänge von altphilologischer zu neuphilologischer, und spezifisch neu-anglistischer, Textkritik und Editionspraxis gestalteten sich fließend. Ingenium, Geschmack und ästhetische wie evaluative Wertungskritik bestimmten lange den professionellen wie gesellschaftlichen Bezugsdiskurs auch wissenschaftlicher Ausgaben. Eine spezifisch neuanglistische Textkritik für das beginnende 20. Jahrhundert gründeten W.W. Greg, R.B. McKerrow und A.W. Pollard auf die Buchkunde (bibliography). Auch sie stellten dabei aber die Vermittlungs- und Präsentationsformen textkritisch-editorischer Forschung nicht in Frage. Entsprechend blieb der Editionstyp der Oxford English Authors weitgehend fortbestehen, und er wurde sogar mannigfach redupliziert, v.a. auf dem Felde der Shakespeare-Ausgaben (New Variorum Edition; Arden Edition und New Arden Edition) (Shakespeare-Philologie).

Textkritik und bibliography: Die buchkundliche Analyse (Buchkunde)

Die Neuerungsenergie v.a. McKerrows und Gregs richtete sich vornehmlich auf die Methodik der Textkritik und die Verfahren der kritischen Textkonstitution. Auf dem methodischen Fundament der Buchkunde unternahmen sie es, Textkritik und Edition material- und gegenstandsbezogen zu systematisieren und auf einen Objektivitätsgrad hin zu verwissenschaftlichen, wie er vermeintlich in den Naturwissenschaften herrsche. Die neuere anglistische Textkritik war damit, und blieb das gesamte 20. Jahrhundert hindurch, am Buch, am Druck, nicht an der Handschrift ausgerichtet.

Die Buchkunde (bibliography) ist analytische Referenzdisziplin für den anglistischen Textkritiker. Pragmatisch erschließt sie die handwerkliche Herstellung eines Buches und gewinnt daraus Indizierungen der Qualität, und grundsätzlich auch der Autorität, der drucküberlieferten Texte. Denn als handwerkliche Erzeugnisse tragen Drucke die Spuren des Setzens, des Druckens, der Korrektur und der Fügung ihrer Lagen zum Buch. Man differenziert, wie viele Setzer an einem Druck beteiligt waren, wie sie ihre Arbeitsabschnitte untereinander aufteilten, vorbereiteten und ausführten, in welcher Weise die Druckpresse die Bogenseiten abarbeitete, ob und wie Presskorrekturen vorgenommen wurden, und schließlich auch, welche Regelmäßigkeiten oder Unregelmäßigkeiten die Lagenfolgen des gehefteten oder gebundenen Buches aufweisen. Alles Beobachtete soll den editorischen Umgang mit dem Text steuern helfen.

Grundsätzlicher wird der Buchkunde die Aufgabe zugewiesen, die gedruckten Textträger in ihrer textkritisch-editorischen Relevanz zu bestimmen. Die differenzierende Analyse von Drucken stellt deren Deszendenzlinien fest und bestimmt also ihre stemmatischen Relationen (Stemma). Sie macht die relative Nähe der in ihnen enthaltenen Texte zum Ursprung in verlorenen (Autor-)Handschriften bestimmbar. Die Analyse der handwerklichen Fertigung des einzelnen Drucks vermag diese Nähe bis hinab auf Wort- und Zeichenebene zu plausibilisieren. Für das Mitwirken der Autoren beim Zustandekommen der gedruckten Texte liefert die Analyse der Drucke dabei generell wenig oder keine Anhaltspunkte. Die anglistische Editionswissenschaft scheidet daher nicht so sehr zwischen autorisierten und nicht autorisierten (Autorisation), sondern zwischen substantiellen und nicht substantiellen Zeugen wie Texten. Substantiell ist ein Zeuge, wenn er sich in der (überhaupt nur im Druck noch erhaltenen) abgeleiteten Überlieferung als der ursprungsnächste (handschriftennächste) in Bezug auf die Überlieferung, und damit implizit als der autornächste in Bezug auf den Text erweist. Seinem Text wird präsumptive Autorität eingeräumt, und der Text von präsumptiver Autorität gilt als ein substantieller Text. Die präsumptive Annahme verpflichtet die Textkritik, die Textautorität stets kritisch zu prüfen. Im Begriff der Textautorität liegt konzeptuell eine logische Scheidung von Text und Textträger beschlossen, die für die textkonstitutiven editorischen Konsequenzen aus der buchkundlichen Methode der Textkritik bedeutungsvoll ist.

Theoretische Implikationen hat schließlich die Perspektivenausrichtung der Methode. Sie sucht auf den beschriebenen Analysewegen von den erhaltenen zu den verlorenen Überlieferungsstufen und ihren anzusetzenden Überlieferungsträgern zurückzudringen. Das ist zunächst eine pragmatische Angelegenheit. Es ist oftmals materiell entscheidbar, ob ein frühester erhaltener Druck tatsächlich der erste, oder aber von einem verlorenen Druck abgesetzt ist. Die Bestimmung eines Buches als Erstdruck oder Nachdruck kann demnach die Annahme der Stufen einer verlorenen Überlieferung, und also die relative Ursprungsnähe eines erhaltenen Textes, begründen. Ein Erstdruck dann muss seinerseits aus einer handschriftlichen Vorlage gesetzt worden sein. Zur Abschätzung der präsumptiven Autorität seines Textes ist demnach eine Einschätzung der Vorlage erforderlich. War sie ein Autograph oder eine Schreiberabschrift? Wenn autograph, war sie eine Arbeitshandschrift (Entwurf) oder eine Reinschrift? Wenn von Schreiberhand, war sie eine Reinabschrift der auktorialen Arbeitshandschrift, ein Bühnenmanuskript (im Falle eines Dramas) oder die Abschrift eines solchen? War sie damit gar eine speziell für den Druck gefertigte Vorlage? Aus der Druckanalyse hat man Bestimmungskriterien für solche Handschriftenarten (Handschriften, Typen) unterscheidbar abgeleitet. Merkmale aus Buch und Text hat man Typen von Handschriften zuzuordnen gesucht, die man ihrerseits aus heterogenen historischen Zeugnissen über die Textproduktion und Textverbreitung in Handschriften angenommen oder hergeleitet hat. Die übergeordnete theoretische Implikation einer solchen rückwärts gegen den Überlieferungsstrom gerichteten textkritischen Perspektive liegt in dem Umstand, dass sie editorisch einem synthetisierenden Verfahren der Textkonstitution Vorschub leistet.

Buchkunde und Edition: Das Copy-Text-Edieren

Alle Schritte und Ergebnisse der buchkundlichen Analyse führen zur Editionshypothese. Methodologisch setzt sie den argumentativen Rahmen für die nach anglo-amerikanischem textkritischen Denken angestrebte kritisch-eklektische Textkonstitution (Eklektizismus; eklektische Ausgabe). Hat die Druckanalyse die Sedimentierungen der verlorenen Vor-Niederschriften der Überlieferung nachgewiesen, so wird es zum editorischen Ziel, aus den substantiellen Zeugen den Autortext zu edieren. Nach Lage der Dinge ist das Resultat ein kritischer Text (Kritik) und eine kritische Ausgabe, a critical text und a critical edition. Der deutsche Begriff historisch-kritisch greift nur bedingt. Denn der historisch-kritische Text und die historisch-kritische Edition sind der materiellen Bezeugung der Geschichtlichkeit einer jeweiligen Überlieferung verpflichtet (Materialität). Solche materielle Bezeugung ist beim Zurückdringen in verlorene Vorstufen gerade nicht gegeben; sie ist allenfalls im frühest erhaltenen Druck in schattenhaftem Aufriss abgebildet. Der kritische Text anglistischer Definition ist folglich ein idealer Text.

Für das editorische Verfahren, nach dem der ideale Autortext erstellt wird, gilt der Grundsatz: der kritische Text wird auf dem Substrat eines Basistextes, eines copy-text, konstituiert. Der copy-text ist per definitionem ein substantieller Text. Die Grundeinstellung ist sodann eine doppelte: dem substantiellen Text wird präsumptiv zwar Autorität zugebilligt, aber gleichzeitig wird angenommen, dass er verderbt ist (Textverderbnis). Die Textautorität wird demzufolge aus einer Evaluierung der Ergebnisse der buchkundlich-textkritischen Analyse bestimmt. Den kritischen Text editorisch zu konstituieren schließt somit die intellektuelle Forderung wie die pragmatische Verpflichtung ein, den überlieferten Text editorisch zu verändern. Der Textkonstitution nach Maßgabe der kritisch bestimmten Textautorität stehen dabei keine Autorisationsreglementierungen entgegen. Ein Reglement sieht nur vor, substantielle von nicht-substantiellen Textzeugen zu scheiden: buchkundlich analytisch also den frühest erhaltenen Druck nachzuweisen, ihn als Editionsgrundlage zu wählen, und allen von ihm abgeleiteten, dabei progressiv verderbten, und so nicht substantiellen Drucken die Qualifikation als copy-text abzusprechen. Die Notwendigkeit, den copy-text kritisch zu verändern, folgt dann aus seiner von vornherein angenommenen Fehlerhaftigkeit. Das editorische Verfahren, über das der Basis- oder copy-text zum edierten Text verändert wird, ist das der Emendation, also das traditionelle editorische Verfahren der Ausbesserung von textkritisch bestimmter Fehlerhaftigkeit überlieferter Texte. Kein verbindlicher Textfehlerbegriff wirkt hier regulativ. Dies rührt seinerseits aus einem Mangel an übergeordneter Textbegrifflichkeit her. Emendiert wird punktuell, eine Lesart ersetzt eine andere, und der Eingriff wird lemmatisiert verzeichnet (Lemma). Wenn sich Emendationen nicht, etwa bei offensichtlichen Druckfehlern, sozusagen von selbst ergeben, erscheint es zudem auch unproblematisch, das Material für das Emendieren im gegebenen Falle den nicht substantiellen Textträgern zu entnehmen. Sie können zwar keine Textautorität beanspruchen, bezeugen aber zumindest in ihrem allgemeinen Sprachgebrauch historische Nähe. Die Konjektur aus editorischem Ingenium ist gleichfalls eine zulässige, und aus der textkritischen Verpflichtung heraus grundsätzlich auch wahrzunehmende, Option für die Textkonstitution.

Entsprechend der Verwandtschaft der zugrundeliegenden Überlieferungssituationen steht diese Verfahrensweise noch der Altertum- und Mittelalter-Editorik nahe. Das Denkmuster einer stemmatisch (Stemma) orientierten, auf den verlorenen Archetypus zielenden Textkritik lässt sich noch ausmachen. Eine eigenakzentuierte Ausprägung hat die neuanglistische textkritische und editorische Methode des copy-text editing darüber hinaus erhalten durch die Systematisierung einer Sondersituation der Überlieferung, die zuerst bei Shakespeare begegnete: zwei frühe Drucke, keiner autoritativer als der andere, sind beide auch substantiell, sind so genannte collateral substantive texts. Im Textstand divergieren sie so, dass der spätere nicht einfach die Verderbnis des früheren darstellen kann, sondern dass die variante Textsubstanz des zweiten sich im Kernbestand als zum Text des ersten konkurrierender Autortext ausweist. Relativ einfach liegt der Fall, wenn die Textstände zwei Fassungen (nach germanistischer Definition) repräsentieren und die Drucke buchkundlich voneinander unabhängig sind. Das kommt vor. Doch häufig treten die Fassungsunterschiede in Verbindung mit einer buchkundlichen Abhängigkeit auf: der frühere Druck diente, mit eingetragenen und einzuarbeitenden Korrekturen und Revisionen, als Vorlage für den späteren Druck. (Begrifflich unterscheidet die anglistische Textkritik zwischen Korrektur und Revision: Korrektur ist die Berichtigung zur Wiederherstellung, Revision ist die verändernde Fortschreibung eines Textes.)

Im Hinblick auf alle nicht revidierte Textsubstanz wird vorausgesetzt, dass der spätere Druck (wie stets) weiterhin verderbt ist. Im späteren Text koexistiert progressive Deszendenzverderbnis also mit den Textrevisionen. Diese sind es, die den späteren Druck zum gleichfalls substantiellen Zeugen machen. Für R.B. McKerrow (McKerrow 1939) erschien es unausweichlich, in solchen Fällen den späteren Druck als copy-text zu bestimmen und für den edierten Text aus ihm auch allfällige Verderbnis in Kauf zu nehmen. Dagegen hat W.W. Greg (Greg 1966) ein Prinzip der Autoritätsspaltung gesetzt. Er hält auch in der Überlieferungssituation von collateral substantive texts an der Wahl des autornächsten (unrevidierten) Textzeugen als copy-text fest. Aus dem revidierten Druck wird für die kritische Textkonstitution nur relevant, was nach evaluativem Urteil tatsächlich als Revision zu erweisen ist. Jede Berücksichtigung von Orthographie, Groß- und Kleinschreibung und Interpunktion des Textträgers mit dem revidierten Text entfällt damit. Denn diese ganze, von Greg so genannte Akzidenz (accidental variants) überlebt so, wie sie sich ursprünglich in der verlorenen Autorniederschrift gestaltete, wenn überhaupt, dann am ehesten im Erstdruck, während der (auch) revidierte, zugleich aber mechanisch-technisch vom unrevidierten Erstdruck abgesetzte Zweitdruck sie noch weiter überfremdete. Angenommen wird dabei, dass der revidierende Autor sich auf die Revision nur des Wortbestands beschränkte. Das ist eine pragmatisch vernünftige Annahme bei Herstellungsbedingungen eines Buchs zur Zeit von Handsatz und Handpresse. Was der Autor tatsächlich gemacht hat, indem er auf der Grundlage des Erstdrucks den Text in seinen Revisionsstand überführte, ist schlechterdings dann aber nur kenntlich, wenn es sich dem evaluativen Urteil zu erkennen gibt. Das heißt, es wird nur im Bereich der sinntragenden Elemente des Textes, vornehmlich im Wortbestand also, analysierbar, in den von Greg so genannten 'substantives' (substantive variants).

Greg differenziert demnach pragmatisch. Er unterscheidet zwischen accidentals und substantives des Textes, deren Autorität sich spaltet: Textautorität in Bezug auf die accidentals kommt dem als copy-text bestimmten Erstdruck zu, und gleichfalls in Bezug auf die nicht revidierten substantives. Der revidierte Druck besitzt Textautorität nur hinsichtlich der kritisch erkannten Revisionen. Zwischen der Akzidenz des Zweitdrucks, die so kritisch-editorisch unberücksichtigt bleiben kann, und der kritisch isolierbaren Revision tut sich allerdings eine Grauzone in all jenen Veränderungen im Wortbestand auf, die der kritischen Anerkenntnis als Revisionen nicht standhalten. Greg spricht hier - und das ist seine dritte Kategorie - von indifferent variants. Sie könnten hin und wieder Revisionen sein, verhalten sich aber der kritischen Beurteilung gegenüber indifferent, und das Wahrscheinlichere ist, dass sie setzerverursachte Verderbnis darstellen. Er rät ein editorisch kalkuliertes Risiko an, um zu vermeiden, dass in den edierten Text aufs Ganze gesehen mehr autorfremde als auktoriale Textsubstanz eingeht, und er verfügt, dass bei der Überlieferungslage von collateral substantive texts der edierte Text nicht nur in den accidentals und den invarianten substantives, sondern auch in den indifferent variants dem autornächsten Text, also dem Erstdruck als copy-text, zu folgen habe. Ganz strikt nur hinsichtlich der als solchen kritisch erkannten Revisionen sei der Zeuge der Revision textkonstitutiv maßgebend. Das editorische Urteil, das zur kritischen Textkonstitution den copy-text verändert, arbeitet diese Revisionen in die Textur des unrevidierten Basistextes ein. Formal geschieht das auf die gleiche Weise, wie Fehler des copy-text behoben werden: durch Emendation. Das editorische Ergebnis ist ein kritisch-eklektischer Text als idealer Text von kumuliert größtmöglicher Nähe zur Autorniederschrift.

Fortgedacht vom amerikanischen Editionswissenschaftler Fredson Bowers (Bowers 1950/51; Bowers 1975), mutierte W.W. Gregs pragmatische Anweisung für den editorischen Umgang mit Renaissance-Texten zur Grundlage der copy-text theory, der orthodoxen anglo-amerikanischen Konzeptualisierung von Textkritik und Edition im 20. Jahrhundert. Die Zielvorgabe wechselte dabei von einer Ausrichtung auf den idealen Text zu einer Ausrichtung auf den Autor und die Intention. Das von Greg anempfohlene Verfahren des kritisch-eklektischen Edierens, so hieß es nun, sei der konsequent methodische Weg, um in einer Ausgabe als edierten Text den autorintendierten - stärker noch: den Text der letzten Autorintention, of the author's final intention - zu erzielen. Bowers erhob für das von ihm weitergedachte Verfahren des copy-text editing den Anspruch, es sei periodenübergreifend allgemeingültig. Hohen Verbindlichkeitsgrad erhielt seine Fortschreibung der Gregschen Pragmatik durch ihren Einbezug in die textkritischen und editorischen Regelvorgaben für die Ausgaben des Center for Editions of American Authors. Diese wurden mit großer Subvention aus Staatsmitteln zum Zweck einer auch wissenschaftlichen Kanonisierung des US-amerikanischen nationalen Erbes an literarischen und historischen Texten in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erarbeitet.

Bowers' Umdenken der Gregschen Pragmatik für Renaissance-Texte in eine allgemeine Methodik und Theoretisierung des Edierens sollte kaum eine Generation lang Bestand haben. Dass die übergeordnete Berufung auf die Autorintention editionstheoretisch bedenklich sei, hat zuerst Hans Zeller in den 1970er Jahren gegen die anglo-amerikanische copy-text theory eingewendet (Zeller 1975). Nur zögernd nahm man diese Aussenperspektivierung der Disziplin wahr. Die anglo-amerikanische Editionswissenschaft selbst wurde sich erst allmählich der Kollisionen der Editionsverfahren nach der copy-text-Theorie mit den Entstehungs- und Überlieferungspragmatiken bei Texten von Autoren einer jüngeren und jüngsten Vergangenheit bewusst. Ihr Neudenken traf mitten in den literaturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel von textimmanentem New Criticism zu den ihn ablösenden Theorien, Empirien und Pragmatiken in den Wissenschaften von Texten und Literaturen. An der Methodenschwelle zur Neukonzeption von Editionswissenschaft in der anglophonen Welt steht Jerome McGann, A Critique of Modern Textual Criticism von 1983 (McGann 1983). Copy-text editing unter absoluter Priorisierung der Autorkreativität und -intention sind ihm die neuralgischen Bereiche herrschender Lehre und Praxis. Bezeichnenderweise verharrt aber seine Systemkritik noch innerhalb des weiteren anglo-amerikanischen Systems der Textkritik und Editionswissenschaft. Seinen Alternativentwurf einer modernen Textkritik, welchen er insbesondere in The Textual Condition (McGann 1991) noch weiter führt, bezieht auch er letztlich aus der Buchkunde, der bibliography. Er leitet aus ihr nun eine gesellschaftlich markierte und strukturierte Konzeption von Textproduktion, Textüberlieferung und Textrezeption her. Auf dem pragmatischen Umstand, dass Schreiben und Veröffentlichen stets eine kollektive Leistung darstellen, errichtet er eine social theory of editing, welche das Leitprinzip der Autorintention entscheidend relativiert. In deren Rahmen unterscheidet er zudem, aus dem Bewusstsein für die medialen Faktoren der Anordnung und Zusammenstellung von Texten und ihrer typographischen Gestaltung, zwischen dem linguistischen Code - der Textgestalt selbst in ihren konventionalisierten Sprachzeichen - und dem bibliographischen Code eines Überlieferungsträgers. Damit entwickelt er Möglichkeiten zur Beschreibung und Analyse von Textträgern, welche auch deren nicht-sprachliche Bezeichnungsebene zu berücksichtigen erlaubt und so wesentliche Anschlussmöglichkeiten an jüngere medienhistorische (Medientheorie) und kultursemiotische (Kultursemiotik) Forschungsansätze bietet.

McGanns Stimme ist eine herausragende, und zugleich eine von vielen in den intensiven theoretischen Auseinandersetzungen der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft der letzten anderthalb Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Die soziohistorische Öffnung des buchkundlichen Forschungsansatzes findet sich bei D.F. McKenzie, Bibliography and the Sociology of Texts (McKenzie 1986). Eine liberalisierende Öffnung des konservativen Denkens in der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft leistet am ausgewogensten Peter Shillingsburg (Shillingsburg 1996, Shillingsburg 1997). Die Textkritik insbesondere zur Periode der englischen romantischen Dichtung hat eine eigene Fassungsbegrifflichkeit (versioning) entwickelt und zieht daraus beginnende editorische Folgerungen (z.B. Reiman 1987).

Welche pragmatischen Konsequenzen die theoretischen Diversifikationen und Vertiefungen in der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft haben werden, das heisst: wie die neuen Editionen aussehen werden, die ihr systematisch entspringen, ist noch nicht abzusehen. Im wesentlichen drei wissenschaftliche Ausgaben gibt es derzeit im anglistischen Bereich, die neue Paradigmata bereit halten. Auf sie reagiert die anhaltende Debatte jedoch eher, als dass diese Ausgaben aus ihr hervorgewachsen wären. Einmal ist zu nennen die kritisch-synoptische Edition des Ulysses von James Joyce, in drei Bänden 1984 erschienen. Sie hat eine doppelte methodische Wurzel, denn sie ist sowohl dem anglo-amerikanischen buchkundlich geprägten copy-text editing wie der germanistischen genetisch orientierten Edition (Neugermanistische Editorik) verpflichtet. Die Aufarbeitung ihrer editorischen und editionswissenschaftlichen Implikationen ist in der angelsächsischen Editionswissenschaft noch immer im Gange. Das andere Beispiel neuer Paradigmatisierung bietet der Oxford Shakespeare aus dem Jahr 1986 (in zwei parallelen Textbänden: einmal in moderner, einmal in alter Orthographie, sowie mit einem Textual Companion-Band). Diese Edition verwirklicht den Auftrag für eine neue Shakespeare-Ausgabe, den R.B. McKerrow nach seiner Nashe-Ausgabe von 1904-1910 erhielt, zu der er aber bis zu seinem Tode zur Jahrhundertmitte lediglich 1939 die Prolegomena vorzulegen vermochte. Als Edition setzt der Oxford Shakespeare von 1986 die weitgespannte buchkundliche Textkritik des Jahrhunderts zu Shakespeare in eine Ausgabe um. Zugleich geht er über die Möglichkeitsvorstellungen eben dieser Textkritik hinaus. Sein entscheidender Neubeitrag zur Shakespeare-Textkritik ist die Konzeption und editorische Realisierung von Fassungen der Dramen. Zumeist sind dies, aufgrund der Überlieferungslage, Theaterfassungen. In einem herausragenden Falle - King Lear - bietet die Ausgabe jedoch zwei Autorfassungen des Stückes. Damit ist im traditionell musterbildenden Bereich der anglistischen Textkritik, der Shakespeare-Editorik, die Anschlussmöglichkeit gesichert an textkritisches Denken und editorisches Handeln zu anderen Epochen, etwa der englischen Romantik. Das Fassungsbewusstsein, das sich hier mittlerweile gegenüber den Überlieferungen gebildet hat, hat seine Umsetzung vereinzelt auch schon in Ausgaben gefunden. Markant darunter ist das dritte erwähnenswerte Ausgaben-Paradigma: die von J.C.C. Mays besorge Edition der Lyrik von S.T. Coleridge im Rahmen der Coleridge-Gesamtausgabe unter Kathleen Coburn. Sie überträgt erstmalig in den Bereich anglistischer Editionen eine am germanistischen textgenetischen Modell entwickelte Editionskonzeption. Insgesamt sind aber auch auf dem Felde der Editionen englischer Lyrik seit der Romantik Bewusstsein und Begriffsbildung noch so in Bewegung, dass eine Systematisierung auf neues editorisches Verständnis hin noch schwerlich zu leisten ist.

[HWG]

Literatur:

[Bowers 1950/51] Bowers, Fredson. 1950/51. Current Theories of Copy-Text, with an Illustration from Dryden. In: Modern Philology 48, 12-20.arrow back
[Bowers 1975] Bowers, Fredson. 1975. Essays in Bibliography, Text, and Editing. Charlottesville.arrow back
[Greg 1966] Greg, Walter Wilson. 1966. The Rationale of Copy-Text. In: Collected Papers. Hrsg. von J.C. Maxwell. Oxford, 374-391.arrow back
[McGann 1983] McGann, Jerome J. 1983. A Critique of Modern Textual Criticism, Chicago/London.arrow back
[McGann 1991] McGann, Jerome J. 1991. The Textual Condition, Princeton.arrow back
[McKenzie 1986] McKenzie, D.F. 1986. Bibliography and the Sociology of Texts. London.arrow back
[McKerrow 1939] McKerrow, Ronald B. 1939. Prolegomena for the Oxford Shakespeare. A Study in Editorial Method. Oxford.arrow back
[Reiman 1987] Reiman, D. H.. 1987. Romantic Texts and Contexts. Columbia.arrow back
[Shillingsburg 1996] Shillingsburg, Peter L. 1996. Scholarly Editing in the Computer Age: Theory and Practice. Athens (Georgia)/London.arrow back
[Shillingsburg 1997] Shillingsburg, Peter L. 1997. Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Michigan.arrow back
[Zeller 1975] Zeller, Hans. 1975. Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: LiLi 5, Heft 19/20, 105-126.arrow back

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