APPARAT. Bestandteil einer Edition, der Entstehungsvarianten, Überlieferungsvarianten und andere Textelemente sowie weitere für den Text relevante Informationen verzeichnet, erläutert (Kommentar) und dem konstituierten Text (Textkonstitution) gegenüberstellt (s. Maas 1950, 16). A.e sind auch unter den Bezeichnungen Kritischer Bericht, Revisionsbericht, Critical Commentary, Anhang, Lesartenapparat, Variantenverzeichnis oder Variantenapparat in Editionen sprachlicher und musikalischer Texte zu finden. A. und konstituierter Text bilden zusammen den Text einer Edition.

Der Inhalt von A.en wird zu großen Teilen negativ definiert als das, was nicht zum konstituierten Text gehört. Der A.inhalt steht somit in vielen Fällen in direktem Bezug zu den für die Textkonstitution relevanten Selektionskriterien, die aus ganz verschiedenen editionswissenschaftlichen Konzepten und Zielsetzungen abgeleitet werden können: so z.B. aus den Begriffen der Autorisation, der Authentizität oder der historischen Faktizität (Rezeption) wie auch weitergehend aus einem der Dokumentation von Textgenese, Schreibprozeß oder Überlieferung zugeschriebenen Erkenntniswert sowie schließlich auch aus der editorischen Leitunterscheidung zwischen akzidentiellen und substantiellen Bestandteilen des Überlieferungsmaterials etwa im Rahmen der angloamerikanischen Copy-Text-Methode (Angloamerikanische Editorik). Theoretisch kann der Inhalt des A.s dann im Zusammenhang mit dem konstituierten Text beschrieben werden, als innerhalb der Edition subsidiärer, in Bezug auf den konstituierten Text komplementärer Bestandteil. Gleichwohl bieten die Selektionskriterien, die den konstituierten Text definieren, in ihrer Negation lediglich ein notwendiges, nicht aber ein hinreichendes Kriterium für die Definition der A.-Inhalte. So wäre beispielsweise in einer Edition, die den Anspruch erhebt, eine autorisierte Textfassung zu präsentieren, nicht jedes Element, das nicht-autorisiert ist, zwingend auch für den A. relevant. A.e bedürfen folglich zusätzlich eigener Selektionskriterien, die sich nur z.T. aus Konstitutionskriterien des etablierten Textes ableiten lassen. Einem konstituierten Text, der einen autorisierten Text wiedergibt, kann folglich z.B. ein A. gegenübergestellt sein, der Entstehungsvarianten oder Überlieferungsvarianten oder beides enthält. Darüber hinaus können im A. auch Texte verzeichnet sein, die mit dem konstituierten Text nur mittelbar in Verbindung stehen, so etwa im apparatus fontium in altphilologischen Ausgaben, der intertextuelle Bezugstexte (Intertextualität) oder Quellen des Autors (Quellen- und Einflussforschung) wiedergibt oder aber Texte verzeichnet, die intertextuell auf dem konstituierten Text beruhen. Auch können A.e die Dokumentation und Erläuterung kontextrelevanter Informationen zur Textentstehung, zur Überlieferung oder zur Rezeption im Kommentarteil einer Edition umfassen. Ferner bietet der A. einer Edition gewöhnlich Raum für wissenschaftliche Selbstlegitimation, in der die Grundsätze der Textkonstitution u.a. vorgestellt und verteidigt werden können.

Eine Funktionsbestimmung des A.s hat somit zwei Ebenen zu unterscheiden. Der A. steht in einem bestimmten Verhältnis zum konstituierten Text, und er erfüllt eine bestimmte Funktion in Bezug auf die Edition. Bezogen auf den konstituierten Text impliziert der A. die Vorstellung, daß bestimmte Textelemente, die aus der Entstehung und/oder Überlieferung eines Textes oder aus editorischen Eingriffen (editorischer Texteingriff) in das überlieferte Textmaterial resultieren, mit anderen Textelementen im Hinblick auf eine zu erzielende Textgestalt konkurrieren. Dies setzt prinzipiell die Möglichkeit voraus, einen in sich geschlossenen und begrenzbaren Text als zu edierenden Text definieren zu können: so z.B. den Text eines Archetypus, eine Fassung früher oder letzter Hand, den Text einer Leithandschrift, ein autorisiertes (Autorisation) oder authentisches (Authentizität) Textdokument, einen substantiellen Text (Angloamerikanische Editorik) etc. Innerhalb eines solchen Textes besteht die Möglichkeit bestimmte Textsegmente, die im Verlauf der Textentstehung, -überlieferung und -geschichte zu integralen Bestandteilen des Textes wurden, nach bestimmten Kriterien auszuwählen, zu bewerten und gegebenenfalls aus dem zu konstituierenden Text auszugrenzen und in den A. auszulagern. Im einzelnen zielt diese Vorgehensweise gewöhnlich auf die Konstitution eines Textes im Sinne einer geschlossenen Ordnung von Zeichenelementen und einer höchsten Sinneinheit.

Der A. bietet somit die Möglichkeit, Elemente, die vom konstituierten Text ausgeschlossen werden, im Text der Edition zu bewahren. Die im A. enthaltenen Textelemente erfahren durch ihren Ausschluß aus dem konstituierten Text zwar in der Regel eine Abwertung; ihre Berücksichtigung im A. charakterisiert sie jedoch zugleich als Material, das aufgrund seiner aktuellen Relevanz für die Edition potentielle Relevanz auch in Bezug auf den konstituierten Text besitzt. Daraus folgt eine prinzipiell ambivalente Funktion des A.s für den konstituierten T. Einerseits expliziert und festigt der A. Wortlaut und Gestalt des etablierten Textes, zum anderen macht er diese einer kritischen Rezeption und Diskussion zugänglich. Im ersten Fall legitimiert der A. den konstituierten Text dadurch, daß er den inferioren Charakter des im A. dargebotenen Materials nachweist. Im zweiten Fall stellt der A. den Text dadurch in Frage, daß das dort dargebotene Material dem konstituierten Text gleichberechtigt zur Seite gestellt wird. Die Gestaltung des A.s kann einen konstituierten Text somit als stabil oder instabil, als geschlossen oder offen kennzeichnen (Martens 1975).

Gegenüber dem konstituierten Text behauptet der A. in doppelter Weise die Autonomie der Edition. Einerseits wird das aus dem konstituierten Text Ausgeschlossene zugleich in die Edition eingeschlossen (Hahn 1987, 30-32, Kanon), andererseits unterläuft der A. mit der Legitimation textkonstitutiver Entscheidungen den absoluten Geltungsanspruch des konstituierten Textes. Im Extremfall kann die Tatsache, daß sich die textkritische Arbeit vorrangig im A. niederschlägt, zur Umkehrung des herkömmlichen Hierarchieverhältnisses zwischen Text und A. führen: In dieser Perspektive erscheint der konstituierte Text als untergeordnete Hilfsfunktion, die es lediglich erlaubt, das komplexe Verweisungsgefüge des A.s. zu bündeln (vgl. Martens 1975, Boydston 1991, 9). Geeignete Darstellungsformen für eine solche editorische Zielsetzung bilden neben dem integralen Apparat auch elektronische Editionen, die z.B. auf dem Prinzip des Hypertext basieren.

Wesentlicher Faktor für die Funktionsbestimmung von A.en im Verhältnis zu konstituiertem Text und Edition ist neben der allgemeinen Zusammensetzung des Inhalts auch die konkrete typographische und satztechnische Gestaltung, die Plazierung der A.-Einträge im Verhältnis zum konstituierten Text sowie die Art und Weise, in der ihr jeweiliger Inhalt formalisiert und kodiert wird. A.e bedienen sich sehr unterschiedlicher äußerer Gestaltungsformen und sprachlicher Darstellungsmethoden (Apparat, Typen). Diese reichen von der knappen, möglichst kompakten Form eines formalisierten und lemmatisierten A.s, wie er beispielsweise für die stellenbezogene Verzeichnung von Überlieferungsvarianten in Fußnotenapparaten charakteristisch ist, bis hin zur ausführlichen diskursiven Darstellung von Sachverhalten, wie man sie etwa im Fall von Quellenbewertungen, aber auch in Überblicksapparaten findet.

Die Entscheidung, ob A.-inhalte formalisiert oder diskursiv vermittelt in einer Edition erscheinen, beeinflußt und steuert die Rezeption der Editionsinhalte maßgeblich. Insbesondere die editionspezifischen, syntaktischen und semantischen Konventionen des formalisierten A.s widersetzen sich der unmittelbaren und voraussetzungslosen Lektüre und erfordern ein besonderes Engagement und Interesse seitens des Lesers. Zudem setzen sich nur selten Formalisierungsstandards durch, häufig werden A.e in ihrer Gesamtheit, trotz Beibehaltung bestimmter bewährter Gestaltungs- und Formalisierungsmethoden (z.B. Negativ-A. oder Positiv-A.) individuell für eine bestimmte Edition neu entworfen Standardisierung für Editionen). Diskursiv vermittelte A.e dagegen sind zwar leichter lesbar, die Eigenständigkeit der A.-Einträge erschwert hier jedoch die punktuelle Bezugnahme auf den konstituierten Text.

Die Lektüre von Editionen, die in einen konstituierten Text und in einen A. gegliedert sind, ist stets ein Akt der Rekonstruktion, der den Geltungsanspruch des konstituierten Textes relativiert. Auch ob und inwieweit dieser relative Geltungsanspruch in einer Edition betont oder überspielt wird, hängt von der Plazierung der A.-inhalte in der Edition und ihrer graphischen Gestaltung ab. Ein integraler Apparat, der durch diakritische Zeichen im konstituierten Text ständig präsent ist, destabilisiert den konstituierten Text bereits dadurch, daß er die Lektüre auf besondere Weise segmentiert oder infolge des Nachweises von Varianten, Parallelstellen etc. semantisch komplexer gestaltet. Angehängte A.e dagegen suggerieren dadurch, dass sie im Text selbst nicht repräsentiert werden, dessen erhöhte Autonomie und Geschlossenheit. In elektronischen Editionen, die A. und konstituierten Text über sog. Links miteinander vernetzen, wird die Integration des A.s in den konstituierten Text dagegen individuell und flexibel vom Leser selbst bestimmt. Die Art der Beziehung zwischen konstituiertem Text und A. wird daher im Vorgang jeder einzelnen Lektüre neu definiert, so daß sich die Edition selbst als verhältnismäßig offener Text präsentiert.

Aufgrund ihrer komplexen inneren Struktur bilden A.e ein hierarchisches und normatives System der Informationsverzeichnung, -klassifikation und -verwaltung. Die Ebene der (typo)graphischen Gestaltung bildet dabei nicht nur eine Form der Vermittlung diese Ordnungssystems, sondern sie hat selbst entscheidenden Anteil an der durch die Edition vermittelten Information. Der hierarchischen und normativen Gliederung des Textmaterials entspricht in der Regel ein editorischer Legitimationsdiskurs, der die entsprechende Ordnungsform durch den Nachweis adäquater Selektionskriterien begründet und damit möglichst transparent gestaltet. Die Vorstellung dass "the nature of the textual evidence dictated the shape of [a] book's textual apparatus” (Boydston 1991, 7), daß also ein bestimmter Text einen für ihn adäquaten A. gleichsam selbst generiert, ist angesichts des geschichtlichen Wandels von Editionen, der historischen Entwicklung von medienabhängigen Vermittlungsformen (Medientheorie) und der Eigendynamik verschiedener editionswissenschaftlicher Zielsetzungen (vgl. z.B. Backmann 1924, Scheibe 1998, Zwerschina 2000) schwer haltbar. Vielmehr ist die Architektur von Editionen (analog zur Architektur von Gebäuden) als kulturelle Technik beschreibbar, in der sich Strategien der Unterordnung, Ausgrenzung und Bemächtigung manifestieren, die wesentlichen Anteil an der Traditions- und Identitätsstiftung einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt haben. Kodikologie, Buchkunde und Buchgeschichte (histoire du livre, history of the book) wie auch verschiedene Ansätze zu einer social theory of editing bieten erste Beschreibungs- und Analysemuster, welche es erlauben, die (typo)graphischen und diskursiven Eigenschaften einer Edition einzuschätzen und zu bewerten. Die vielfältigen Gestaltungsformen des A.s können darüberhinaus Anlass bieten, die verschiedenen Beobachtungsmöglichkeiten der "physical nature of reading" (White 1991, 81; Materialität) für eine kultur- und diskursgeschichtliche Beschreibung der materiellen Bedingungen hermeneutischer Schlüsselkategorien wie Autorschaft, Rezeption, Textualität etc. zu nutzen (vgl. De Grazia 1991, Delery 1991, King 1991).

[CU]

Literatur:

[Backmann 1924] Backmann, Reinhold. 1924. Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. In: Euphorion 25, 629-662.arrow back
[Boydston 1991] Boydston, Jo Ann. 1991. In Praise of Apparatus. In: Text 5 , 1-13. de Grazia, Margreta. 1991. Shakespeare Verbatim. The Reproduction of Authenticity and the 1790 Apparatus. Oxford.arrow back
[De Grazia 1991] De Grazia, Margreta. 1991. Shakespeare Verbatim. The Reproduction of Authenticity and the 1790 Apparatus.arrow back
[Delery 1991] Delery, Clayton J. 1991. The Subject Presumed to Know: Implied Authority and Editorial Apparatus. In: Text 5, 63-80.arrow back
[Hahn 1987] Hahn, Alois. 1987. Kanonisierungsstile. In: Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von Aleida und Jan Assmann. München, 28-37.arrow back
[King 1991] King, Katie. 1991. Bibliography and a Feminist Apparatus of Literary Production. In: Text 5, 91-103.arrow back
[Maas 1950] Maas, Paul. 1950. Textkritik. 2., verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig.arrow back
[Martens 1975] Martens, Gunter. 1975. Texterschließung durch Edition. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Bedeutung textgenetischer Apparate. In: LiLi 19/20, 82-104.arrow back
[Scheibe 1998] Scheibe, Siegfried. 1998. Variantendarstellung in Abhängigkeit von der Arbeitsweise des Autors und von der Überlieferung seiner Werke. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von H. Zeller und G. Martens. Tübingen (=Beihefte zu editio, Bd. 10), 168-176.arrow back
[White 1991] White, Patricia S. 1991. Black and White and Read All Over: A Meditation on Footnotes. In: Text 5, 81-90.arrow back
[Zwerschina 2000] Zwerschina, Hermann. 2000. Variantenverzeichnung. Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet, Hermann Zwerschina. Berlin, 203-229.arrow back

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