NOTATION. Unter N. versteht man allgemein die Aufzeichnung von Zeichen und Symbolen. Dabei übersteigt der Begriff die engere Bedeutung von Schrift und umfasst im weiteren Sinn auch Notenschrift, mathematische Schriften, Diagramme, Computerbilder etc. In terminologisch präziser Begriffsverwendung wird für N. darüber hinaus ein Symbolsystem vorausgesetzt, das den Kriterien der Disjunktivität und der endlichen Differenziertheit gehorcht. In diesem Sinne ist der Begriff der N.alität mit dem der Allographie (allograph) synonym, insofern er die wiederholbare Kopierbarkeit von Symbolen bezeichnet; dementsprechend sind autographe Zeichenrealisierungen dagegen als nicht n.ale Aufzeichnungsformen einzustufen.

Gemäß dem Kriterium der Disjunktivität muss die materielle Realisierung eines N.szeichens (Marke od. Inskription) zu nur einem weiteren, nicht aber zu mehreren weiteren Zeichen gehören, um Teil eines N.ssystems zu sein. (Die Funktion des Schriftzeichens i erfordert es z.B., dass es auf den Buchstaben "i", nicht aber auch auf den Buchstaben "l" verweist). Gemäß dem Kriterium der endlichen Differenziertheit muss ferner gewährleistet sein, dass zwischen zwei benachbarten Marken anstelle unendlich vieler Übergangsmöglichkeiten eine sie beide voneinander differenzierende ,Lücke' besteht. Zwischen den Schriftzeichen i und l muss etwa ein graphisches Differenzkriterium existieren, der i-Punkt, damit beide Realisierungen als Teil des schriftlichen N.ssystems bestehen können. (Goodman 1968, vgl. Fischer 1997).

In der Editionswissenschaft sind n.stheoretische Überlegungen insofern relevant, als sie einem spezifischen Materialitätsaspekt der überlieferten Schrift- und Textträger Rechnung zu tragen erlauben. Auf n.theoretischer Grundlage ist es zum einen möglich, jene Elemente des Überlieferungsmaterials zu bestimmen, die im Rahmen einer wiederholbaren Schreibweise n.al prinzipiell erfasst und editorisch reproduziert werden können. Daraus ergibt sich zum anderen das Problem, welche nicht n.alen Informationen von Schrift- und Textzeugen durch die editionstechnische Wiedergabe verloren gehen bzw. wie und in welchem Maße dieser Verlust ggf. kompensiert werden kann. Stellenwert und Informationsgehalt von nicht n.alen Daten betreffen im editionstechnischen Rahmen z. B. Hinweise auf die Chronologie der Textentstehung und -überlieferung, welche sich aus Topographie, Schreibstrategie und Duktus der Handschrift sowie aus einmaligen Merkmalen von Drucken ergeben (Analytische Druckforschung). Im Bereich von Handschriften variiert der Anteil von n.alen und nicht n.alen Bestandteilen in der Regel danach, welche Funktion der Schriftträger im Prozess der Textentstehung erfüllt (Reinschrift, Entwurf, Notiz etc.). Gerade im Rahmen der Entwurfsphase lässt sich häufig eine Abkehr von den Konventionen der schriftsprachlichen und notenschriftlichen Aufzeichnungspraxis beobachten, die im Falle von Reinschriften seltener zu konstatieren sind. Die Frage, inwieweit hierbei zudem historische Unterschiede der Produktionsästhetik zu berücksichtigen sind, bildete noch kaum den Gegenstand der Forschung. Editionspraktisch lassen sich nicht n.ale Elemente nur von Fall zu Fall und entsprechend der jeweiligen editorischen Zielsetzung behandeln; die Entscheidung für Schwarz/weiß- oder Farb-Faksimiles, für Transkription und/oder diskursive Erläuterungen und Beschreibungen im Kommentar, für Lemmaapparat oder andere Apparattypen (Apparat, Typen) etc. bilden hierbei einige der möglichen verfahrenstechnischen Optionen.

Auf der Seite des kulturwissenschaftlichen Forschungsinteresses tangiert das Problem der N. die Frage nach dem ontologischen Status des ästhetischen Werks. Text- und Ton-Kunstwerke basieren in der Regel auf einem allographen Symbolsystem. Dabei wird angenommen, dass der Text etwa einer Partitur oder eines Romans im wesentlichen durch ein entsprechendes (musikalisches oder sprachliches) N.ssystem dargestellt und ohne signifikante Verluste reproduziert werden kann. Zwar trifft dies im Bereich der Literatur oder der Musik prinzipiell in höherem Maße zu als im Bereich der Malerei, deren Darstellungselemente in der Regel weniger Merkmale einer identischen Schreibweise aufweisen, die es z.B. ermöglichen würde, den überwiegend autographischen Werkgehalt von Gemälden zu reproduzieren (Fälschung). Allerdings zeigt der editionswissenschaftliche Blick auf Werkentstehung und -überlieferung, dass auch im Bereich von Musik und Literatur Momente des Nicht-N.alen auftreten, die insbesondere den ästhetischen Eigenwert von Handschriften betrifft, aber auch bestimmte Aspekte von Drucken: Zeilenumbruch, Layout, Typographie etc. (bibliographical code; vgl. Raible 1991 u. Raible 1997). Hinsichtlich der musikalischen Aufzeichnungstechnik ist hierbei ferner zu berücksichtigen, dass die Notenschrift zwar die verschiedenen Notenwerte und -dauern eindeutig zu referenzieren erlaubt, Aufführungs- und Gestaltungselemente wie Tempo, Agogik und Dynamik dagegen n.al nicht in vergleichbarer Weise erfasst werden können. (Vergleichbares gilt für Intonation, Gestik, szenische Ausstattung etc. im Drama). Prinzipiell machen die aufführungsbezogenen Aspekte von N. deutlich, dass die für N. konstitutive Wiederholbarkeit von Symbolen performative Eigenleistungen (Performanz) impliziert, die das jeweils Notierte mit zusätzlichen Bedeutungswerten anreichern, welche sowohl die Individualität des konkreten N.akts als auch dessen Zeitgebundenheit und jeweilige Bedingtheit durch historisch bestimmte Konventionen und Normen markiert (vgl. Derrida 1972, Wellbery 1993). Im Fall musikalischer Aufzeichnungssysteme steht das Bewusstsein für die Rückwirkung der N.stechnik auf das Notierte und für die historische Bedingtheit und Konventionsabhängigkeit verschiedener N.ssysteme womöglich auch deswegen besonders im Vordergrund, weil stets mehrere Arten der musikalischen N., Typen koexistierten und vom 9. Jahrhundert bis heute eine außerordentlich rasche und dynamische Entwicklung erfahren haben (Musikwissenschaftliche Editorik). Eine ähnliche Problematik findet sich auch in den textphilologischen Debatten um Normalisierung und Modernisierung, die sich n.theoretisch als Frage nach der Transkription von einer N.norm in eine andere reformulieren lässt. Entsprechende historische Untersuchungen zeigen zudem, inwieweit bestimmte N.sgewohnheiten an das Bewusstsein sprachlicher und kultureller Identität geknüpft ist (Joost 2000).

Im Falle von Schriftzeugen sind signifikante Spannungsverhältnisse zwischen n.alen und nicht n.alen Aufzeichnungselementen insgesamt häufig auf der Ebene der semiotisch komplexen Text-Bild und Text-Klang-Beziehungen gegeben (Intermedialität). Dabei scheint gerade die per Definition singuläre Gestalt der nicht n.alen Elemente den Geltungsanspruch von allgemeinen Aussagen zu Strukturgesetzen und historischen Entwicklungen zu verhindern. So erklärt sich, dass sich der für diese Untersuchungsperspektive einschlägige Ansatz der critique génétique wie auch die textkritisch orientierte Hermeneutik im Umfeld der historisch-kritischen Editorik durch einen reflektierten Positivismus auszeichnen, welcher die ästhetischen Produktionszeugnisse von parallelen Entwicklungsprozessen der Sozial-, Real-, Denk- und Literaturgeschichte jedoch weitgehend isoliert (Werner 1985; Gellhaus 1994; Espagne 1998). Bestrebungen, diesem tendenziellen Immanentismus entgegenzuwirken finden sich in mediengeschichtlichen Ansätzen, welche die n.alen Aspekte von Schriftzeugen mit anderen optischen oder auch akustischen Aufzeichnungstechniken vergleichen. Unter diesem Aspekt wird gefragt, inwieweit parallele Entwicklungen in der Theorie und Praxis von bildender Kunst, Musik und Tanz sowie in audiovisuellen Speichertechniken allgemein als Folie historisch bestimmter Wahrnehmungsgewohnheiten mit den komplexen Gegebenheiten von handschriftlichen Zeugnissen in Beziehung zu setzen sind. Die komplexe Semantik handschriftlicher Zeugnisse zeigt sich hierbei häufig daran gebunden, dass diese die Spuren der Materialität von Kommunikation (Gumbrecht/Pfeiffer 1987) zum Anlass nehmen, kontrovers auf ihre medialen Entstehungsbedingungen zu reagieren. Unter dieser Prämisse erschließt sich die N.problematik handschriftlicher Aufzeichnungspraktiken in ihrem allgemeinen historischen Aussagewert: als Indizien für mediengeschichtlich und epistemologisch induzierte Spannungsverhältnisse im gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang (Lüdeke 2003). Die hierbei beobachtbaren Verbindungen zu epistemologisch und wahrnehmungstheoretisch bestimmten Problemlagen sowie zu anderen Kunstformen und Medien können als Hinweis darauf gewertet werden, dass es zwischen dem n.theoretisch differenzierten Beschreibungsinstrumentarium der Textkritik und dem allgemeinen kulturwissenschaftlichen Fragehorizont fruchtbare Anschlussmöglichkeiten gibt (Kulturwissenschaft). In dieser Hinsicht lässt sich die n.stheoretische Fragestellung eingliedern in einen seit den 1960er Jahren zu beobachtenden "Materialisierungsschub" (Krämer/Koch 1997, 11), der in kulturwissenschaftlichen Ansätzen so heterogene Bereiche der Theoriebildung wie die These einer konstitutiven Sprachlichkeit von Kognitivem oder die Annahme der mediengeschichtlichen Bedingtheit kultureller Bedeutungsstiftung umfasst.

Roger Lüdeke, Cristina Urchueguía

Literatur:

[Derrida 1972] Derrida, Jacques. 1972. Signatur Ereignis Kontext. Übers. von Donald W. Tuckwiller. In: J. D. Randgänge der Philosophie. Wien 1988, 291-314.arrow back
[Espagne 1998] Espagne, Michel. 1998. De l'archive au texte. Recherches d'histoire génétique. Paris.arrow back
[Fischer 1997] Fischer, Martin: Schrift als Notation, in: Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, hrsg. v. Peter Koch und Sybille Krämer, Tübingen 1997, S. 83-101. (Probleme der Semiotik, Bd. 19)arrow back
[Gellhaus 1994] Gellhaus, Axel, Hg. 1994. Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg.arrow back
[Goodman 1968] Goodman, Nelson: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Sussex 1968.arrow back
[Gumbrecht/Pfeiffer 1987] Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hgg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988.arrow back
[Joost 2000] Joost, Ulrich: 'Als müßte ich es mir übersetzen' - Prolegomena zu einer editionskritischen Untersuchung der deutschen Zweischriftigkeit. In: Rüdiger Nutt-Kofoth et al. (Hgg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin 2000, 353-368arrow back
[Krämer/Koch 1997] Koch, Peter und Krämer, Sybille: Einleitung zu: Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, hrsg. v. Peter Koch und Sybille Krämer, Tübingen 1997, S. 9-26. (Probleme der Semiotik, Bd. 19)arrow back
[Lüdeke 2003] Lüdeke, Roger: Mediengeschichte und literarische Aufzeichnungspraxis: Die Zeit der ästhetischen Produktion in Valérys Entwürfen zu La Jeune Parque. In: Bilder der Handschrift. Paradoxien, Provokationen. Hrsg. von Davide Giuriato und Stephan Kammer. [in Vorbereitung]arrow back
[Raible 1991] Raible, Wolfgang: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses, Heidelberg 1991, (Abhandlungen der Heidelb. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Jahrg. 1991, 1. Abh.).arrow back
[Raible 1997] Raible, Wolfgang: Von der Textgestalt zur Texttheorie. Beobachtungen zur Entwicklung des Text-Layouts und ihren Folgen, in: Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, hrsg. v. Peter Koch und Sybille Krämer, Tübingen 1997, S. 29-41. (Probleme der Semiotik, Bd. 19)arrow back
[Wellbery 1993] Wellbery, David: Die Äußerlichkeit der Schrift, in: Schrift, hrsg. von H.U. Gumbrecht und K.L. Pfeiffer, München 1993, (Materialität der Zeichen, hrsg. v. Graduiertenkolleg Siegen, Reihe A, Bd. 12), S. 337-348.arrow back
[Werner 1985] Werner, Michael: Genèse et histoire. Quelques remarques sur la dimension historique de la démarche génétique. In: Leçons d'écriture. Paris 1985, S. 277-294.arrow back

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