ALTGERMANISTISCHE EDITIONSWISSENSCHAFT. Zu den besonderen Gegebenheiten mittelalterlicher Textualität zählt, dass der mittelalterliche Text und seine Überlieferung - vor der Erfindung des Drucks - in einer Handschriftenkultur (Schrift) situiert ist, die sowohl durch mündliche als auch durch schriftliche Entstehungsbedingungen der Texte geprägt wird. Die mittelalterlichen Werke sind dabei kaum je in Autographen überliefert: Die Texttradierung ist immer kopial; auch ist sie immer variant. Um die Varianz der mittelalterlichen Textproduktion sinnvoll zu beschreiben und zu analysieren, muss ferner die mittelalterliche Aufführungspraxis von Literatur berücksichtigt werden. So kennzeichnet etwa den mittelalterlichen poetischen Text die Bindung an die körpergebundene Performanz als face-to-face-Kommunikation in der höfischen Öffentlichkeit, die freilich - kaum institutionell gesichert - als "hochgradig okkasionell, auch prekär" zu beschreiben wäre (vgl. Strohschneider 1997, 23). Die Textgestaltungen selbst weisen dabei keineswegs mehr "die Kennzeichen ihrer originären diskursiven Kontexteinbettungen und kommunikativen Funktionalisierungen" auf (Oesterreicher 1998, 24). Gleichwohl erfordert es die durch Vokalität bestimmte (Schäfer 1994; Strohschneider 1997 und Strohschneider 1999) Situationalität und Institutionalität des mittelalterlichen Textes, kulturhistorisch orientierte Fragen nach der Genese, dem Status und der Funktion insbesondere der Varianz in volkssprachlichen Texten des Mittelalters zu stellen. Dabei kann die variante Überlieferung als Aktualisierung des Werkes, als Adaptation an einen gewandelten Sinnhorizont verstanden werden. Das kann aufgrund der Modalitäten pragmatischen Gebrauchs geschehen und zu kontingenten Sinnverschiebungen und Sinnverlusten im Text führen. Doch können dem Text auch spezifische Sinnbildungen eingeschrieben werden. Unter diesem letzten Aspekt erneuert jeder einzelne mittelalterliche Codex - als 'Redeereignis' - in der spezifischen Situation, in der er Wirkung erzielt, die Präsenz jener Textbedeutungen, die - rekonstruierbar oder nicht - letztlich aus verschiedenen Vorlagen stammen mögen. In editionstheoretischer Hinsicht folgt aus dieser Untersuchungsperspektive, dass "[a]lle schriftlichen Aufzeichnungen eines Textes [...] als 'prinzipiell gleichrangige kommunikative Handlungen' angesehen werden [müssen]" (Stackmann 1998, 29). Diesem Sachverhalt wird in der jüngeren altgermanistischen Editionswissenschaft auch durch den Begriff des offenen oder unfesten Textes Rechnung getragen. In der editorischen Aufbereitung dieser unfesten Texte rückt somit insbesondere die Varianz-Problematik ins Zentrum der Überlegungen.

Ferner ist insgesamt auf die hochgradige Gattungsabhängigkeit mittelalterlicher Textüberlieferung und der entsprechenden editorischen Lösungskonzepte hinzuweisen. So wird z.B. in der Textkritik des höfischen Romans, der als der klassische Anwendungsbereich, ja als "die stärkste Bastion traditioneller Textkritik" gilt (Müller 1999, 151), intensiv diskutiert, inwieweit das zentrale textkritische Konzept der Kontamination für diesen Bereich mittelalterlicher volkssprachiger Texttradierung überhaupt Gültigkeit beanspruchen kann. Mischhandschriften - Handschriften, "deren Text in wechselnden Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen zu anderen Handschriften stehen"- kommen - so das Konstrukt der traditionellen Textkritik (Maas 1950, 8) - aufgrund von Kontamination zustande. Dabei arbeitet der Schreiber einer Handschrift den Text unterschiedlicher Vorlagen ineinander. Jüngere Bemühungen hinsichtlich der Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert haben jedoch Zweifel daran geweckt, ob Kontamination als reales Phänomen jenseits ihrer Hypostasierung in der textkritischen Methode den Gegebenheiten und Bedingungen der Überlieferung dieser Texte tatsächlich gerecht wird (Bumke 1996, 29f.). Bedingung für einen durch Kontamination gekennzeichneten Umgang mit den Texten der höfischen Romane ist eine als philologisch zu charakterisierende Textauffassung (Philologie). Damit ist eine Textbehandlung gemeint, die den Erhalt des richtigen Textes im Auge hat und deshalb das Zeugnis weiterer Überlieferungsträger hinzuzieht. Es ist aber die Frage, ob überhaupt und wenn ja, wie verbreitet ein derart bewahrendes Interesse am 'richtigen' (Autor)-Text in diesem Zeitraum bzw. Texttyp anzusetzen ist. Fraglich ist auch, ob ein Schreiber bei der Abschrift nicht eher auf die Vollständigkeit des Textes als auf dessen Qualität achtete (Nellmann 2001). Kontaminierende Abschreibepraxis lässt sich - nach den Beobachtungen Bumkes - an den Überlieferungszeugnissen des 13. Jahrhunderts aber kaum feststellen. Dieser auch noch an weiterem Textmaterial zu erhärtende Befund stellt freilich einen Widerspruch zu der großen Anzahl von Handschriften dar, die ihre Texte - in stemmatologischer Hinsicht - in Mischungen präsentieren. Um die Genese von Mischtexten zu erklären, orientiert sich die altgermanistische Textkritik - so sie nicht am Erklärungsmodell der Kontamination festhält - an der Modellauffassung, nach der die höfischen Romane in Parallelfassungen (Parallelüberlieferung) tradiert wurden.

Hieran wird zugleich deutlich, inwieweit die Vertreter der jüngeren Mediävistik sich von einer bis ins 20. Jahrhundert reichenden Tradition abgrenzen, welche ihr literaturgeschichtliches und editorisches Interesse am Autortext durch eine den historischen Produktionsbedingugen des Mittelalters letztlich unangemessene Genie- und Autonomieästhetik des 18. Jahrhunderts legitimierte. Seit der Frühphase der Germanistik zielte die Editorik sprachlich-stilistisch wie auch inhaltlich auf die Rekonstruktion der originalen Komposition des Autors. Orientiert an einer produktionsbezogenen Konzeptualisierung von Autorschaft und eng verbunden mit der institutionellen Etablierung der Germanistik im 19. Jahrhundert als wissenschaftlicher Disziplin entwickelte Karl Lachmann ein Modell von Textkritik (Lachmannsche Methode), das auf den Editionsprinzipien der Klassischen Philologie und der Bibelkritik der Aufklärung fußt. Lachmanns methodischer Dreischritt von recensio - emendatio - iudicium zielt darauf, die Überlieferung kritisch zu sichten, via Binde- und Trennfehler (Textfehler, Typen) Familien von Handschriften zu begründen, den Text des Archetypus zu rekonstruieren und in diesem ggf. Fehler zu emendieren (Emendation). Diese Vorgehensweise trennt die recensio (Rekonstruktion des Archetypus mit Hilfe der erhaltenen Textzeugen) von der emendatio (Verbesserung etwaiger Fehler dieses Archetypus). Dabei gehen die Editionen Lachmanns bei der recensio von einer beträchtlichen Vereinfachung aus, insofern Lachmman sich nach Möglichkeit auf die ältesten Handschriften stützt. Die Verwandtschaftsverhältnisse (Stemma) werden auf Grund gemeinsamer Fehler bestimmt; dabei ergeben sich wenige, oft zwei Klassen. Als Text des Archetypus gilt, was alle Klassen gemeinsam haben, oder aber, was die 'beste' dieser Klassen, unterstützt von einzelnen Vertretern der übrigen, bereitstellt (Stackmann 1964, S. 244f.; Ganz 1968; Timpanaro 1971).

Die meisten Editoren in der Frühzeit der Germanistik stimmten mit Lachmanns Ansichten zur Textkritik überein; einzelne jedoch, wie Friedrich Heinrich von der Hagen, vertraten eine abweichende Position. So verzichtete dieser in seinen Editionen auf das Prinzip der Rekonstruktion des Autortextes und orientierte sich stärker am Wortlaut der einzelnen Handschrift, die er allerdings zuvor sprachlich normalisierte. Zwar haben die Textausgaben von der Hagens noch bis in die jüngste Zeit polemische Kritik seitens der Fachkollegen erfahren (Hunger 1987, 51). Doch mit der von Gustav Roethe seit 1904 herausgegebenen Textreihe der "Deutschen Texte des Mittelalters" (DTM), in welcher (kritisch) modifizierte Abdrucke von Einzel- bzw. Leithandschriften meist spätmittelalterlicher Texte erscheinen (wobei die Reihe durchaus unterschiedliche Editionstypen aufweist), kann von der Institutionalisierung eines textkritischen Verfahrens gesprochen werden, das - mit den Editionen von der Hagens - auch die Frühzeit der Germanistik schon kannte. Der kritisch bearbeitete Handschriftenabdruck ist auch in der Kritik der Lachmannschen Methode durch Joseph Bédier verteidigt worden, wobei jedoch dessen Einwände in der altgermanistischen Textkritik kaum Wirkungen gezeitigt haben (Bédier 1928). Sinnvoll erscheint der bloße Handschriftenabdruck nicht nur in Fällen, in denen ein Text unikal überliefert und unediert ist. Der Handschriftenabdruck findet als editorisches Konzept in der Altgermanistik auch dann Anwendung, wenn die Überlieferungslage den Verzicht auf die kritische Bearbeitung von Fassungstexten nahe legt (Batts 1971). Verfügt die zu edierende Handschrift über einen hinlänglichen Eigenwert, so bietet sich auch das Verfahren der Faksimilierung (Faksimile) an (Montag 1979).

Mittelalterliche Texte als Aufgabe

Altgermanistische Reflexionen über den textkritischen Umgang mit den überlieferten epischen Texten des Mittelalters beziehen sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg auf Karl Stackmanns Aufsatz "Mittelalterliche Texte als Aufgabe" (Stackmann 1964). Wegweisend hatte Stackmann herausgearbeitet, dass die Überlieferungsverhältnisse eines Textes bestimmte Bedingungen erfüllen müssen, damit die Lachmannsche Editionsmethode erfolgreich umgesetzt werden kann. Zu diesen Bedingungen gehört zunächst, dass am Beginn der Überlieferung lediglich ein Text steht: "Die Überlieferung muß geschlossen sein, d.h. am Anfangspunkt der für uns überschaubaren Tradition muß ein einziger, fest umrissener Archetypus stehen" (Stackmann 1964, 246). Sodann sollte die Geschichte der Texte vertikal verlaufen sein: Ein Schreiber zeichnet nur den Text einer Vorlage auf. "Der Ausdruck 'vertikal' ist aus dem Bild des Stammbaumes abgeleitet, in welchem die Tochterhandschriften jeweils unterhalb der Mutterhandschriften untergebracht sind." (Stackmann 1964, 246, Anm. 22). Drittens sollen nur einwandfrei erkannte Fehler die Zusammengehörigkeit von Handschriften klären (Stackmann 1964, 256). Schließlich müssen die am Überlieferungsprozess beteiligten Schreiber mit der Intention gearbeitet haben, den Text ihrer Vorlage wortlautgetreu abzuschreiben (Stackmann 1964, 247). Bei Texten aus dem deutschen Mittelalter ist eine Überlieferungskonstellation, die diese Bedingungen erfüllte, kaum je gegeben.

Die Folgerungen, die in der altgermanistischen Textkritik aus Stackmanns Befunden gezogen wurden, erreichten im Fach weitreichende Gültigkeit (Bumke 1991). Joachim Heinzle hat auf die wichtigsten Aspekte dieser Folgerungen für die Editionstheorie und -praxis hingewiesen: "Der entscheidende Unterschied zur Textkritik alten Stils liegt im 'Geist', mit dem die kritische Arbeit unternommen wird, in jenem 'Prinzip Unsicherheit' eben." (Heinzle 1992, 4). Das 'Prinzip Unsicherheit', das dem Leser einer Textedition deren Rekonstruktionscharakter vor Augen führen soll, entwickelt Heinzle in drei Grundsätzen.

Der erste besteht darin, dass der Herausgeber sich einer Leithandschrift anvertraut, welcher der Editor im Sprachlichen wie im Bereich der sog. iterierenden Varianten (der regellose Austausch z.B. von bedeutungsgleichen Konjunktionen oder der Wechsel von Relativ- und Demonstrativpronomina usw.) folgt. Ferner entscheidet er nicht zwischen gleichwertigen, d.h. textgenetisch nicht voneinander ableitbaren, sog. Präsumptivvarianten. Die Herstellung eines kritischen Textes erfolgt also über methodisch streng kontrollierte Eingriffe in den Text einer Leithandschrift. Die Suche nach dem Autortext ist nicht aufgegeben, doch einem divinatorischen Vorgehen (Divination) des Textkritikers sind aufgrund der Gegebenheiten der jeweiligen Überlieferung Grenzen gesetzt. Folglich kann der Editor mit seinem rekonstruierten Text den Autortext verfehlen. Ferner wird durch graphische Mittel betont, dass der edierte Text kritisch hergestellt worden ist. Schließlich hat die Edition dem Leser bewusst zu machen, dass er an den textkritischen Problemen der Ausgabe weiterarbeiten kann. So setzen beispielsweise Helmut Tervooren und Hugo Moser in ihrer Ausgabe von 'Des Minnesangs Frühling' (1977) das Leithandschriftenprinzip konsequent um. Die Vorgehensweise, bei der Edition eines Textes eine Leithandschrift auszuwählen und dieser kritisch zu folgen, hat sich in der altgermanistischen Editorik weitgehend durchgesetzt, wobei die Durchführung durch das jeweilige Überlieferungsmaterial modifiziert wird (Stackmann 1998, 16).

Die überlieferungsgeschichtliche Methode

Mit der sogenannten überlieferungsgeschichtlichen bzw. überlieferungskritischen Edition ist ein weiteres Verfahren der derzeitigen altgermanistischen Textkritik genannt. Es wird angewendet, wenn die Überlieferung eines Werks nicht auf einen einzigen Archetypus zurückführen ist. Der Paralleldruck der differierenden Fassungen eines Texts eignet sich als editorisches Vorgehen bei einer Überlieferungskonstellation, die sich durch eine kleinere Handschriftenzahl auszeichnet. Für Texte, die synchron und diachron eine größere Verbreitung erreicht haben (wie etwa wissensvermittelnde Texte, beispielsweise zur Naturgeschichte oder zur Rechtshilfe, aber auch pragmatisch-erbauliche Werke des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit), hat die Text- und Überlieferungsgeschichte der 'Würzburger Forschergruppe für Prosa des deutschen Mittelalters' um Kurt Ruh editorische Möglichkeiten erarbeitet (Steer 1985; Williams-Krapp 2000). Das Konzept von Mehrtext-Editionen sieht - unter dem Stichwort textgeschichtliche Edition (Editionstypen)- vor, dass die einzelnen Fassungen eines Textes, die Erweiterungen, Kürzungen und Umarbeitungen aufweisen, parallel dargeboten werden. Jede einzelne Fassung ist nach dem Leithandschriftenprinzip erarbeitet. Das Prinzip der kritischen Rekonstruktion hat auch hier seine Geltung.

'New Philology'

Zu Beginn der neunziger Jahre erhielt die altgermanistische Editionsphilologie neue Impulse durch die Rezeption der vor allem in Frankreich und den USA unter dem Begriff der New Philology entwickelten Forschungspositionen. Aus germanistischer Perspektive hat Karl Stackmann in mehreren Aufsätzen eine Kritik an der 'Neuen Philologie' vorgelegt, deren Positionen vor allem in der Romanistik vertreten worden sind (Stackmann 1993 und Stackmann 1994).

Textvarianz als '(r)écriture'

Der von Bernard Cerquiglini für die mittelalterliche Kultur vorgeschlagene Textbegriff, der von einigen Vertretern der 'New Philology' aufgegriffen wurde, zeichnet sich durch strukturelle Affinitäten zum 'écriture'-Konzept von Roland Barthes und Jacques Derrida (Poststrukturalismus) aus und stellt für die traditionelle Textkritik eine weitaus größere Provokation dar als die in der Altgermanistik geführte Diskussion um das Konzept der 'Fassungen' (Cerquiglini 1989). Nach Cerquiglinis Einschätzung sind die Kategorien 'Autor' und 'Werk' für eine Analyse mittelalterlicher Textualität nicht geeignet, weil diese sich vor allem über ein unablässiges 'Weiter- oder Wi(e)derschreiben' ("mobilité incessante et joyeuse de l'écriture medievale") bestimmt. Eine Autorfunktion, die in einem mittelalterlichem Text wirksam Präsenz entfaltet oder ihm Intentionalität verleiht, wird damit prinzipiell geleugnet. Schriftlichkeit vor der Erfindung des Buchdrucks produziert - so Cerquiglini - Varianten ohne Text. Mittelalterlicher Text ist Varianz.

Cerquiglinis Textbegriff wäre ohne die grundlegenden Arbeiten Paul Zumthors nicht denkbar, der von der durch Mündlichkeit wie Schriftlichkeit geprägten kulturellen Situation des Mittelalters ('vocalité') ausgegangen war. Unter dem Begriff des mittelalterlichen Textes fasst Zumthor nurmehr noch die "sprachliche Sequenz, also Worte und Sätze" (Zumthor 1994, 36). Text bildet hier eine Dimension des Werkes, das allererst in der 'performance' (Performanz) Gestalt gewinnt. Die Kategorie der Aufführung siedelt Zumthor im Schnittpunkt von Produktion, Übermittlung ('transmission'), Rezeption, Bewahrung ('conservation') und Repetition an (Zumthor 1994, 37). Kritik an traditionellen philologischen Verfahren kann aus dieser Sicht nicht nur deshalb geübt werden, weil diese sich auf das geschriebene Wort fixieren und damit das spezifisch Mittelalterliche verfehlen. Auch impliziert Zumthors Sicht situationsspezifische Änderungen des Wortlauts eines Textes, die zur geregelten mouvance, der Beweglichkeit des Textes, führen. Cerquiglini geht aber über Zumthors Position insofern hinaus, als er die Kategorie der Autorschaft für die mittelalterlichen Verhältnisse generell leugnet und Überlieferungsvarianz als beliebig und regellos ansetzt. Damit verabsolutiert er die Varianz und reklamiert den totalen Text der poststrukturalistischen Theorie für das Mittelalter (Cerquiglini 1989, 25). Die auf diese Weise bestimmte Textualität des Mittelalters lässt sich Cerquiglini zufolge editorisch nur dann bewältigen, wenn das Buch als Textträger durch den Computer abgelöst ist (Elektronische Edition).

Betrachtet man hingegen den Möglichkeitsraum von Varianz, der sich in mittelalterlicher Überlieferung abbildet, gibt es allenfalls eine Textschicht, welche die Rede von der unablässigen mouvance mittelalterlicher Textualität zu rechtfertigen scheint. Die traditionelle altgermanistische Textkritik fasst dieses Phänomen unter dem Begriff der 'iterierenden Varianten' (Stackmann 1964, 257f.; Bumke 1996, 52). Genetische Abhängigkeitsverhältnisse lassen sich aufgrund der Analyse dieses Textmaterials nicht ableiten, editorische Entscheidungen sind auf dieser Grundlage nicht möglich. Entgegen Cerquiglinis Beschreibung des mittelalterlichen Textes ist zudem an einem genau zu definierenden, engen Fehlerbegriff festzuhalten.

Der von Cerquiglini und der 'New Philology' propagierte radikal dynamisierte Textbegriff behauptet für mittelalterliche Textualität einen auf Dauer gestellten Prozess der Bedeutungsproduktion. Indessen scheint hier eine Überlagerung zweier begrifflicher Ebenen vorzuliegen. Das 'écriture'-Konzept der poststrukturalistischen Literaturtheorie bezieht sich auf einen Aspekt der Textbedeutung, der unabhängig von der überlieferungsbedingten sprachlichen Varianz besteht. Varianz stellt sich dagegen erst mit dem Blick auf das Manuskript oder die Handschrift ein. In der um Systematik bemühten Terminologie Peter Shillingsburgs bezieht sich dieser Aspekt auf den Begriff des 'material text' (Shillingsburg 1997, 73). Dagegen sind die Überlegungen Barthes und Derridas zur 'ecriture' auf den sogenannten 'semiotic text' gemünzt (Text). Mag nun auf der Ebene des 'semiotic text' das Prinzip der 'écriture' als Postulat einer auf Dauer gestellten Bedeutungstransformation Geltung besitzen, so unterliegt dieses Konzept auf der Ebene des 'material text' deutlichen Beschränkungen (Baisch, Lüdeke 2000, 246f.). Vielmehr ist bei der Tradierung mittelalterlicher Texte mit spezifischen und selektiven Aktualisierungen der Sinnschichten eines Werkes zu rechnen. Diese Textproduktivität kann als Moment des aktualisierenden Vollzugs von (vorbildhaften) Texten verstanden werden. Die aktualisierende Adaptation eines Textes verweist nach mittelalterlichem Verständnis gerade auf die Autorität seines Autors, der in gewissem Sinne über die Varianz erst zu sich kommt. Die Vorstellung, die mittelalterliche Textualität zeichne sich durch ein unablässiges, beliebiges und regelloses Ab- und Umschreiben der Texte aus, hält der Überprüfung am konkreten Material der Überlieferung nicht stand (Hausmann 1999, Baisch 2000). Eine permanente Bedeutungstransformation ist auf der Ebene der Überlieferung gerade nicht zu beobachten.

Text als 'Handschrift': Material Philology

Das Stichwort der 'Materialität' von Texten verweist auf die "Bedeutung, die dem Zeichenträger für den Prozeß der Speicherung und Übermittlung von Information zugemessen wird." (Müller 1995, 450) Materieller Zeichenträger ist im Mittelalter meist die aus Pergament angefertigte Handschrift, deren Funktion als sinnerzeugende und sinnvermittelnde Instanz von dem Romanisten Stephen G. Nichols in besonderer Weise hervorgehoben worden ist. Nichols präzisiert seine Vorstellungen der Erneuerung philologischer Erkenntnis im Konzept einer Material Philology (Nichols 1997). Hierbei vertritt er die Position eines philologischen Skeptizismus, die der Varianz in den Überlieferungsträgern allein gerecht werden soll: "[...] for variants are simply different ways of representing, and thus interpreting, a given thought. Material philology, which takes manuscript skepticism seriously, operates very differently from textual criticsm's ideal inherent in its quest to reconstitute a lost." (Nichols 1997, 16) Programmatisch dezentriert Nichols Konzept die Bedeutung des (Autor)Textes im mittelalterlichen Codex und betont seine Funktion als Kreuzungspunkt verschiedener Diskurse.

Nichols Erklärungsrahmen bei der Analyse der mittelalterlichen Codices favorisiert die Prinzipien der Singularität, Kontingenz und Akzidentalität (Gumbrecht 1997, 32). Die materielle Realisation eines Textes in einer mittelalterlichen Handschrift als Ausdruck eines eigenen Systems der Sinnproduktion wird dabei in den Vordergrund gerückt. Der (poetische) Text in einer Handschrift bildet nur eine Dimension, durch welche die Bedeutung des Überlieferungsträgers konstituiert wird. Der Text und seine Semantik wird in dieser Sichtweise gegenüber seinem Status in der traditionellen Textkritik depotenziert. Autor, Schreiber, Redaktor, Illuminator, Rubrikator und Kommentator verfertigen in je besonderer Arbeitsteilung eine Handschrift, produzieren einen polyphonen Sinnzusammenhang, dessen Rekonstruktion Einblick in den kulturellen Kontext gewährt, in dem die Handschrift entsteht (Text). Nichols Plädoyer gilt einer optimistischen Aufwertung der Handschrift als reales Objekt - als programmatische Wendung gegen eine wortfixierte Philologie (Nichols 1997, 11). Als Ausgangspunkt von Nichols Überlegungen zu einer Material Philology lässt sich neben dem mouvance-Konzept Zumthors (Speer 1979/80, 318) auch ein Begriff des kulturellen Textes vermuten, wie ihn Stephen Greenblatt zur Analyse einer 'Poetik der Kultur' entworfen hat (Greenblatt 1988; Kulturwissenschaft). Nichols Rückbesinnung auf die Objekthaftigkeit der mittelalterlichen Handschrift, in der spezifische 'Verdichtungen' von kulturell und sozial aufgeladener 'Energie' zu beobachten seien, lässt sich damit als "Re-Pragmatisierung des dekonstruktivistischen Textbegriffs" verstehen (Baßler 1999, 27).

[MB]

Literatur:

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[Zumthor 1994] Zumthor, Paul. 1994. Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994.arrow back

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