4 óffenúngâ] In Notkers Schriften finden sich sonst nur drei weitere Belege, darunter einer im letzten Kapitel (NiKap 93) von De interpretatione und zwei im Psalter. Ersterer steht bezeichnenderweise im Kontext eines Grundtext-Segments, das Segment 4 wieder aufnimmt:

Sunt autem hæ quæ sunt affirmationes et negationes not eorum (i. earum passionum) quæ sunt in anima.

Es sind aber die, die Bejahungen und Verneinungen sind, Zeichen derer (d.h. ihrer Erfahrungen), die in der Seele sind.

Ságâ sínt îo óffenúngâ des uuânes únde dero gedáncho. (Ni 105, 7-10)

Aussagen sind stets Offenbarungen der Meinung und der Gedanken.

Aus dem Vergleich der Kontexte ist demnach leicht zu ersehen, daß die beiden Vorkommen des Wortes in De interpretatione semantisch äquivalent sind.

In Psalm 43,4 (Np 47, 22f.) wird illuminatio vultus tui ("Licht deines Angesichts"; angesprochen ist Gott) mit óffenunga dínes ánaliûtes übersetzt; Notker erläutert im Anschluß (Np 47, 23) - weiterhin in der Anrede Gottes -, Gott zeige hier seine Anwesenheit in seinen Werken. Der zweite Beleg in Notkers Psalter ist eine Glosse, die freilich nicht von Notker selbst stammt: Die Bearbeitung von Psalm 103 enthält das Bibelzitat unicuique datur manifestatio spiritus ad utilitatem (footnote] "In einem jeglichen erzeigen sich die Gaben des Geistes zum gemeinsamen Nutzen.", I Cor. 12,7; Np 383, 10f.), das interlinear übersetzt wird mit eínemo iêgelichen uuírt kelâzzen dis keístis óffenunga ze núzzedo. Sprache, insbesondere in der Funktion als Träger für göttliche Vorschriften, wird im Psalm 118 thematisiert, wobei die poetische Form explizit mit Sprache, speziell Schriftsprache operiert: Das hebräische Original des Psalms war in 22 Gruppen von je 8 Versen eingeteilt, die jeweils den gleichen Anfangsbuchstaben hatten und in alphabetischer Reihenfolge aufeinanderfolgten. Hauptthema ist Gottes Gesetz und dessen getreue Befolgung durch das Sprecher-Ich des Psalms. Ps. 118, 130 Declaratio sermonum tuorum illuminat . et intellectum dat paruulis ("Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Einfältigen.") wird übersetzt mit Vuanda óffenunga dînero uuorto irliêhtet luzzele . unde gîbet in fernumest.

Notker verwendet also mit óffenunga ein Wort, das er sonst nur an einer Stelle und dort im theologischen Kontext gebraucht; es steht im Zusammenhang mit der Offenbarung Gottes durch verschiedenartige, auch sprachliche Zeichen. Diese Zeichen vermitteln demnach theologische und damit höchste und verbindlichste Wahrheiten. Damit stellt sich die Frage, wie sich Notkers Ausdruck óffenunga für die Beziehung zwischen Bewußtseinsinhalten und sprachlichem Ausdruck mir der Arbitrarität sprachlicher Zeichen, wie sie der Aristotelische Text behauptet, in Einklang bringen läßt. (Explizit an etwas späterer Stelle: Secundum placitum (NiKap2,4).)

Eine weitere Frage wäre, ob Notkers Doppelformel óffenúngâ únde zéichen eine semantische Ausdifferenzierung des Wortes óffenúnga erbringt. Denkbar wäre, daß óffenunga im Sinne von 'Offenbarung', 'Kundgabe' das aktive Moment einer Äußerung betont, das auf Seiten des Sprechers liegt, während zéichen in dieser Beziehung neutral ist.(Vgl. dazu auch Staeves 1994, S. 45, 46 und 49.)