[P 4-6]

Der Abschnitt 4-6 war Ausgangspunkt für sämtliche mittelalterliche Erörterungen über Semantik und Zeichentheorie. Welche Bereiche aber nun im Einzelnen angesprochen sind, wird je nach Übersetzung - und damit Interpretation - bis ins 20. Jahrhundert hinein unterschiedlich verstanden. Magee 1989 exemplifiziert diese Problematik an Übertragungen zweier griechischer Termini: So ist einmal von συμβoλα (entspricht notæ), einmal von σημεια (entspricht notæ) die Rede, eine Unterscheidung, die neben Boethius auch viele moderne Übersetzer ignorieren (vgl. Magee 1989, S. 18ff.). Weiterhin existieren in der griechischen Überlieferung Varianten πρωτων (gen. pl.), deren wichtigste wohl das Adverb πρωτως ist. So heißt es im griechischen Text 16 a 3-4, Sprache und Schrift bestehen aus συμβoλα und damit aus durch Konvention festgelegten Zeichen, die auf Bewußtseinsinhalte (Übersetzung Boethius: in anima passiones) verweisen; 16 a 6-7 dagegen besagt, daß die - für alle gleichen - "ersten" Bewußtseinsinhalte durch σημεια, d.h. natürlich-vorgegebene Anzeichen, bezeichnet werden. Werden also συμβoλα und σημεια durch die einheitliche Übersetzung mit notæ fälschlich synonym verwendet? Die folgende Interpretation bei Magee bietet eine Lösung für das Problem, setzt aber voraus, daß an der fraglichen Stelle das Adverb πρωτως steht: Aristoteles wollte mit seiner Unterscheidung zeigen, daß lautliche Äußerungen nie natürlicherweise Symbole sind; sie sind zwar an erster Stelle (πρωτως ) symptomatische Anzeichen("symptomatic indices" Magee 1989, S. 43) dessen, was in der Seele stattfindet - denn würde nichts in der Seele stattfinden, gäbe es auch keine Äußerung -, diese Relation ist aber lediglich die notwendige, noch nicht die hinreichende Bedingung für eine etwas bedeutende lautliche Äußerung.

Liest man nun "an erster Stelle" (primorum), stellt sich die Frage, was an zweiter Stelle steht. In der Tradition wurde diese Stelle oft mit der Welt der realen, extramentalen Dinge besetzt, woraus sich die bekannte und historisch äußerst wirkungsvolle Interpretation ergab, Aristoteles spreche von einer dreifachen Beziehung zwischen Sprache, Intellekt und Ding. (Magee 1989, S. 48)

Die Lesart πρωτων (n. pl.) dagegen läßt sich dahingehend verstehen, daß von "ersten" im Sinne von einfachen, noch nicht miteinander verbundenen Bewußtseinsinhalten im Gegensatz zu zusammengesetzten, womöglich wahrheitsfähigen Gedankengebilden die Rede ist; von dieser Lesart ausgehend deutet also der Satz in Segment 4 nicht auf irgendeine extramentale Realität hin.

Das Verhältnis von realen Dingen (πραγματα) zum Bewußtsein wird erst in Segment 7 explizit angesprochen. Es besteht hier aber nicht dieselbe Art von Beziehung wie zwischen mentalen Vorgängen und ihnen zugeordneten Äußerungen, sondern es ist die Rede von einer wie auch immer gearteten Ähnlichkeit (oμoιωματα similitudines) zwischen den - für alle Menschen gleichen - realen Dingen und den durch diese hervorgerufenen, ebenso für alle gleichen Bewußtseinsinhalten.

Als eine weitere problematische Variante tritt an der Segment 6 und 7 entsprechenden Stelle in einigen Textzuständen ταυτα (hae/diese) für ταυτα (eaedem dieselben) auf. Boethius, der selbst an der Lesart eaedem festhält, referiert die abweichende Lesart des Satzes im KI:

Est alia quoque scriptura hoc modo sese habens: "quorum autem hae primorum notae, hae omnibus passiones animae et quorum hae similitudines, res etiam hae"
(Meiser I 40, 26-28)

sowie, unter Heranziehung der Interpretationen von Herminus und Alexander, im KII (vgl. Meiser II, 37,30-40,9). Herminus entscheidet sich für die abweichende Lesart, weil nur so die Passage auf äquivoke Ausdrücke angewendet werden könne, denn bei diesen werde, mangels Eindeutigkeit, nicht notwendig ein bestimmter Ausdruck von allen Menschen in derselben Bedeutung verstanden (vgl. Magee, S. 10.)

Der Querverweis auf De anima (Segment 8) war für Andronikos ein Indiz dafür, daß Peri hermeneias unecht sei. Ammonios führte diese Beurteilung darauf zurück, daß er in De anima keine Stelle finden konnte, in der Gedanken als Erfahrungen (Weidemann: "Widerfahrnisse") der Seele bezeichnet werden. Boethius dagegen vermutete, daß Ammonios unter diesen Erfahrungen (bzw. wörtlich παθoς 'Leiden') der Seele Emotionen wie Trauer, Freude Begierde verstand - was freilich in die Irre führte (vgl. Weidemann, S. 151). Ammonios beruft sich, um die Gleichsetzung von Gedanken mit Erfahrungen der Seele zu untermauern, auf drei Stellen aus De anima; von diesen weist, so Weidemann, 403 a 3-10 die meiste Relevanz auf. Aristoteles spricht dort von einem aktiven und einem passiv-aufnehmenden Moment in den Tätigkeiten der Seele. Darin liegt die Ähnlichkeit des Denkens mit der Wahrnehmung (Vgl. Weidemann 1994, S. 152f.).