ENTWURF. (engl.: draft; franz.: brouillon) Im editionswissenschaftlichen Bezugsrahmen ist der Begriff bezogen auf den Zustand einer vollendeten und vollständigen Werkgestalt, welche durch den E. jedoch noch nicht repräsentiert wird. Entwürfe bilden frühe Phasen im Prozess der Werkentstehung. Synonym verwendet werden auch die Begriffe der Arbeitshandschrift und der E.shandschrift, in der Musikwissenschaft spricht man daneben auch von Kompositionsskizze, in der Kunstwissenschaft neben E. auch von ébauche oder Skizze.
Der E. ist zu unterscheiden von der Notiz (Giuriato 2002, Papernyj 1991), deren Niederschrift nicht notwendig auf weitere Produktion zielt, ähnliches gilt für Entstehungszeugnisse, wie z.B. Exzerpte, Kopien etc., die nicht unmittelbar auf die konkrete Werkproduktion bezogen sind, sondern diese nur mittelbar einleiten. Weiter ist der E. von der literarischen Form des Fragments zu unterscheiden, das, nicht nur in der Romantik, durchaus den Anspruch erhebt, den Zustand einer vollendeten und vollständigen Textgestalt zu repräsentieren; und dies unabhängig davon, dass es in sprachlicher Hinsicht programmatische Momente des Unvollständigen, Unvollendeten und Offenen signalisiert. Dagegen bezeichnet der editionsphilologische Begriffe des Fragments bestimmte Überlieferungsbedingungen des E.s: die Tatsache, dass dem E. im weiteren Entstehungsverlauf doch keine weitere Ausformulierung und Vollendung folgte (Fragment aus inneren Gründen) oder dass die vollendete Fassung des Textes, auf den der E. bezogen ist, im Laufe seiner Überlieferung verloren ging (Fragment aus äußeren Gründen) (vgl. Groddeck 1991). Von frühen Gesamtfassungen, korrigierten Druckfahnen etc. lassen sich Entwürfe nur graduell unterscheiden. Auf der Ebene der textuellen Kohärenz (Text) betrifft dies die häufige Abkehr von linearen Verlaufsformen und syntagmatischer Festigkeit (Alternativvarianten), wie sie für die vollendete musikalische oder literarische Werkgestalt in der Regel kennzeichnend sind. Auf der Ebene der Notationstechnik (Notation) betrifft dies die häufige Abkehr von den Konventionen sprachlicher und musikalischer Aufzeichnungspraxis (Intermedialität). Definitions- und Klassifikationsversuche des E.begriffs finden sich insbesondere in der musikwissenschaftlichen Editorik (Konrad 1992, 339-394, Unverricht 1973, Appel 1999).
Forschungsgeschichtlich stellt die französische Forschungsrichtung der critique génétique in der Bewertung des E.s einen wesentlichen Einschnitt dar. Während die textkritische Literaturwissenschaft der 1960er bis 1980er Jahre E.szeugnisse noch vorrangig als Erkenntnismittel für Interpretation und Edition der vollendeten Werkgestalt verwendete, definiert die critique génétique die E.sphase als eigenständiges Untersuchungsfeld. Reflexe dieses Paradigmenwechsels finden sich auch in der neugermanistischen oder musikwissenschaftlichen Editorik in zunehmenden Versuchen, die historisch-kritische Darstellung der Werkgestalt durch die umfassende Dokumentation der E.sphase in der Handschriftenedition abzulösen oder zu ergänzen. Die textkritische Interpretation hat sich damit neue Gegenstandsbereiche erschlossen. In den Blick geraten die für E.shandschriften charakteristischen Text-Bild-Verhältnisse (Hay 1989; Genesis 1996; Pickering 1996; Pickering 1996; Bourjea 1997), kognitionspsychologische und kreativitätstheoretische Fragestellungen (Bellemin-Noël 1982; Schmidt-Radefeldt 1987; Contat 1988; Contat 1988; Marmande 1991; Hurlebusch 1998; Zwerschina 2000), vergleichende Untersuchungen zum ästhetischen Produktionsprozess in Literatur, Musik, Architektur und Bildender Kunst (Genesis 1993 und Genesis 2000) sowie medientheoretisch fundierte Ansätze zu einer von der Beschreibungsebene der Textproduktion unabhängigen Untersuchung des Schreibens.
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Angloamerikanische Editionswissenschaft